Berlin-Marathon Teil 1

Was kann man noch Neues über den Berlin-Marathon schreiben, wenn man ihn das neunte Mal läuft? Glücklicherweise habe ich bisher noch nicht über ihn geschrieben, so daß ich tun kann, als wäre es das erste Mal.
Die Aufregung des ersten Mals wie vor 8 Jahren war natürlich verflogen, aber die Frage der freundlichen Helferin bei der Startnummernausgabe: „Sie kennen sich ja aus?“ hat mich dann doch etwas verblüfft. Ich habe aber nicht gefragt, woran sie erkannt hat, daß ich Wiederholungstäter war.
Daß die Laufzeit, für die mich im Dezember angemeldet hatte, eine Utopie darstellte, war mir natürlich bewußt, aber ich hielt mich für mündig genug, mich selbständig in einen hinteren Startblock einzuordnen.
Neu war, daß die Startnummernausgabe diesmal im stillgelegten Flughafen Tempelhof stattfand und dort ebenso reibungslos ablief wie in den Jahren davor im E-Werk und bei der Messe. Offensichtlich wollen die Organisatoren, daß man Berlin auch abseits der Marathonstrecke kennenlernt. Schade nur, daß es der Stadt nicht gelingt, dauerhaft eine vernünftige Nutzung für das alte Flughafengelände zu finden. Hier wäre doch einmal der Raum für großflächige Utopien im Herzen der Stadt. Doch wahrscheinlich haben die Politiker unserer heutigen Zeit zu viel Angst und zu wenig Geld für waghalsige Projekte.
Wegen des eingestellten S-Bahn-Betriebs zwischen Zoo und Lehrter Bahnhof nahm ich diesmal die U-Bahn zum Potsdamer Platz, was einen etwas längeren Fußmarsch zum Startgelände erforderte. Die bereits hier strahlende Sonne veranlaßte mich dazu, viel Wasser vor dem Start zu trinken, an das ich diesmal glücklicherweise gedacht hatte. Auf ein Einlaufen verzichtete ich dagegen. Schließlich galt es für mich, nicht eine magische Zeit zu erlaufen, sondern einfach nur heil durchzukommen. Ich wollte also mehr oder minder mein Trainingstempo durchlaufen und hatte mir eine Zielzeit von 3:30 gesetzt, ohne daß deren Einhaltung für mich eine Bedeutung gehabt hätte, aber doch zumindest eine Orientierungshilfe bieten sollte, damit ich nicht übermäßig schnell laufe.
Was ich, wie in jedem Jahr, bemängeln kann, ist der von der Organisation künstlich herbeigeführte Stau beim Verlassen des Startgeländes zum Zugang zu den Startblöcken. Die Verengung des Weges durch eine mäßig breite Öffnung der Absperrung sorgt jedes Jahr für Stau und Ungemach. Hier könnte man sich durchaus mal, anhand Verhaltensstudien zur Öffnungsdurchquerung von Menschen mit kompetativem statt unterstützendem Verhalten orientieren oder noch schlichter, einfach die Öffnung breiter machen, anstatt in panischer Angst zu leben, daß Unbefugte auf das Startgelände gelangen könnten.
Statt gemäß Startnummer nach Startblock B entschied ich mich in die Mitte des Blocks D zu gehen. Das schien meiner Zielzeit angemessener. Wie meistens versuchte ich mich so kurz vor dem Start zu entspannen. Ich machte die Augen zu, und ging so drängenden Fragen nach wie: „Habe ich auch das Bügeleisen ausgemacht?“ Nein, im Ernst, es gelang mir dieser kuriose Mischmasch zwischen die Umwelt vergessen, und sich auf ein harmloses Detail der Umwelt konzentrieren gelang mir recht gut. Als Musik spielten die Veranstalter Ravels Bolero und dazu sagten ausländische Sprecher so schöne Sätze wie „Hartelijk welkomen bij de Real-Berlin-Marathon“. Dies war das Detail an dem ich mich festhielt. Ich fand den Moment deshalb so schön, weil er etwas vereinigendes mit den Menschen der unterschiedlichsten Stationen hatte, die hier am Start waren und Spaß am Laufen haben wollten. Die Veranstaltern, die den Lauf ja unter dem Motto 20 Jahre Wiedervereinigung stellen wollten, mögen von diesem Gedanken auf die Idee gebracht worden sein. Ich meine aber mich zu entsinnen, daß diese Begrüßungszeremonie auch in den Jahren zuvor stattfand, nur dann eben von mir erfolgreich ausgeblendet wurde. Diemal riß mich ein Franzose aus der Konzentrations- und Ablenkungsphase, der mir auf den Rücken klopfte und mir bedeutete, daß sich das Feld aufgrund einiger niedergerissener Absperrbänder ein paar Meter nach vorne bewegte.
Bevor ich nun zu dem Lauf komme, der aus mir unbegreiflichen Gründen von einem Sportartfremden, nämlich dem Fußball-Bundestrainer Joachim Löw, gestartet wurde, möchte ich noch ein kleines Detail vorweg schicken, daß mir in gewissen Punkten es unmöglich macht, den Lauf so zu schildern, wie ich ihn tatsächlich live wahrgenommen habe.
Seit Monaten will ich mir eigentlich eine neue Sportuhr kaufen, weil die Anzeige meiner Uhr, während des Trainings häufig nicht ablesbar ist. Wie gut das Display zu entziffern ist, ist sehr unterschiedlich. Wenn die Uhr etwas Organisches an sich hätte, würde ich sagen, es liegt an der Tagesform, wahrscheinlicher eher an den Wetterumständen, welche die Stromversorgung mehr oder weniger begünstigen. An diesem Tag konnte ich die Anzeige sehr schlecht entziffern, um nicht zu sagen – gar nicht. Zwischenzeitlich war es kurzfristig minimal besser, aber dann beschlug das Display, und es ging wirklich gar nicht. So viel also zur Orientierung an der 3:30, die ja bekanntlich die angenehmste Laufzeit ist, da man einfach stur einen 5er-Schnitt durchlaufen muß.
So lief ich also mehr oder minder blind los, was die Zeit anbelangt und mit mehr oder minder offenen Blick für die Sehenswürdigkeiten Berlins. Bereits direkt nach dem Start auf der Straße des 17. Juni wurde ziemlich klar, daß es schwer werden würde, viel zu sehen. Sicher gab es hier außer den Bäumen des Tiergartens nicht viel zu sehen, und die frontal vor einem stehende Goldelse war dann doch schwer zu übersehen, doch mehr als auf die Siegessäule mußte ich auf darauf achten, den Läufern in meinem Umfeld auszuweichen, die von vorne auf mich zukamen. Soviel also zu der Mündigkeit anderer Läufer sich richtig einzuordnen. Ich kam mir auf jeden Fall wie in einem billigen Computerspiel der 80er vor, in dem man mit seinem Raumschiff durch irgendwelche Tore fliegen mußte. Wie damals kamen mir auch hier die Tore viel zu eng vor und die Geschwindigkeit, mit der sie auf mich zukamen, viel zu hoch. Wenigstens hatte ich neben Pfeiltaste Links und Pfeiltaste Rechts (Hatte mein Orthopäde mir nicht von seitlichen Bewegungen abgeraten?) einen weiteren Steuerparameter, nämlich die eigene Geschwindigkeit. Ich benötigte für den ersten Kilometer, wie ich am späten Abend, als ich die Aufzeichnung meiner während des Laufs nicht lesbaren Uhr kontrollierte fast perfekte 4:55min. Weiter auf der Straße des 17. Juni ging es nun in Richtung Ernst-Reuter-Platz vorbei an einem Flohmarkt, der hier am künstlichen Charlottenburger Tor eigentlich immer stattfindet, wenn ich mich in dieser Gegend befinde, aber natürlich nicht mal ansatzweise mit dem Marché aux Puces in Paris vergleichbar ist. Am Ernst-Reuter-Platz verengerte sich die Laufstrecke auf drei Fahrstreifen. Hatte sich die Dichte des Läuferfelds gerade etwas entspannt nahm sie hier unvermeidbarerweise wieder zu. Dies muß man den Streckenplanern in Berlin wirklich hoch anrechnen: Die Strecke geht fast ausschließlich durch große Straßen und auch wenn das Feld manchmal arg dicht ist, es läßt sich immer noch laufen, und es gibt keine abrupten Wechsel der Richtung. Auch am Ernst-Reuter-Platz, wo wir von West nach Nord-Nord-Ost in die March- und Franklinstraße abbogen, war die Kurve sehr sanft. Bei km 3 bot sich mir ein schönes Bild. Die Marchstraße fällt zunächst langsam ab, um dann zur Brücke über den Landwehrkanal wieder anzusteigen. Dadurch konnte ich das Feld auf einer Länge von mehreren Hundert Metern vor mir laufen sehen. Diese Läufermassen vor mir zu erblicken, war ein herrliches Motiv.
Kurz vor km 4 überquerten wir, von mir unbemerkt, zum ersten Mal die Spree und bogen ab nach Osten nach Moabit. Bei km 5 hatte ich Gelegenheit auf eine von den Veranstaltern aufgestellte Laufzeituhr. Sie zeigte 0:24:54 an, also eigentlich perfekt. Ich rechnete jedoch aus, daß wenn ich eine Minute gebraucht hatte, um über die Startlinie zu kommen, ich tatsächlich 24:00 gelaufen wäre und somit eher auf eine 3:23 als auf eine 3:30 zulief, doch die Zeit war ja nebensächlich, und ich stempelte diese Überlegung als „Interessant. Im Auge behalten ab.“ Tatsächlich benötigte ich 1:32 Minuten, um über die Startlinie zu kommen.
Vorbei an der durch seine berühmten Insassen aus der SED-Führungsriege bekannten Knast Moabit ging es also weiter. Bei km 6 hatte ich einen kurzen Moment Glück und konnte auf meiner Uhr eine 4:33 erraten, was mir dann doch viel zu schnell war, zumal mir mein Gefühl richtigerweise sagte, daß die Kilometer zuvor auch nicht wesentlich langsamer waren. Ich beschloß eine strategische Pinkelpause hinter der Staatsanwaltschaft an den Brückenpfeilern der nicht fahrenden S-Bahn zu machen, um dadurch den Rhythmus zu verlieren und Tempo raus nehmen zu können.
Bei km 7 waren wir, diesmal beiläufig von mir registriert, erneut über die Spree und an der Rückseite des Kanzlerinnenamtes vorbei gelaufen (endlich paßt die neue Rechtschreibung einmal). Wir befanden uns auf Höhe der herrlich altmodischen Schweizer Botschaft. Die Schweizer Botschaft nimmt eine merkwürdige Position in dem Platz zwischen Reichstag und Kanzleramt ein. Sie paßt weder zu der modernen Architektur des Kanzleramts noch zu dem bombastischen und durch die Kuppel himmlisch erhöhten Monumentalbau Reichstag noch zu der Größe der freien Fläche des Platzes, und doch möchte ich dieses Gebäude in seiner Schlichtheit gerade an diesem Platz nicht missen. Es holt den Beobachter einfach zurück auf den Teppich und erinnert eher an ein Fort, indem das Schweizer Bankgeheimnis bis zur letzten Pistolenkugel gegen die Kavallerie verteidigt wird. An diesem herrlich einfachen Haus sollte ich also meinen bis dato langsamsten km mit 5:10 laufen. Auf meiner Uhr erkannte ich nur die 5, was mir angesichts der freiwilligen Pause immer noch schnell, zumal ich bei der erneuten Überquerung der Spree, die hier ja ihren berühmten Bogen schlägt, Läufer, die mein Tempo liefen, etwas von 4:40 reden hörte, was keine wesentliche Temporeduzierung meinerseits indizierte.
Die Reinhardtstraße hinunter bot sich erneut das Bild der vor einem laufenden Massen. Am Ende der Straße liegt der Friedrichstadtpalast. Jedes Jahr wieder träume ich beim Anlauf auf das Theater davon, daß die Revuegirls an der Straße stehen und Cancan tanzen. Jedes Jahr wieder halte ich meinen Blick auf das Theater gerichtet, was mich häufig die hiesige Kurve nach Norden und das dort befindliche km 8 Schild übersehen läßt, und jedes Jahr werde ich enttäuscht. Wenn schon nicht die Revuegirls so möchte ich an dieser Stelle doch die unzähligen Bands, Trommlertruppen, Tänzerinnen und die begeistert Anfeuerung spendenden Zuschauer loben. Sie machen den Berlin-Marathon Jahr für Jahr zu einem großartigen Ereignis.
Der Abzweig in die Friedrichstraße ist eigentlich eine Art Schikane im technischen Sinn, biegt man doch kurz darauf wieder nach Osten ab. Hierbei kommt die Schikane im metaphorischen Sinne, biegt man doch in die Torstraße und nicht in die Oranienburger Straße. Beim Schönhauser Tor erreichten wir km 10. Die offizielle Uhr zeigte 48:12, was mir verdeutlichte, daß ich irgend etwas mit einer 23 vorne dran auf den letzten 5km gelaufen war. 23:18 um präzise zu sein. Auf jeden Fall recht schnell, insbesondere, wenn man meine Pause bedenkt.
Nachdem die Torstraße in die Mollstraße übergegangen war, bogen wir nach Süden in die Otto-Braun-Straße ab, wo wir uns quasi am Fuße des Alex befanden, als wir erneut Richtung Osten in die Karl-Marx-Alle abbogen. Am Kreisverkehr des Strausberger Platz machten wir eine 270°-Drehung und änderten die Richtung gen Süden in die Lichtenberger Straße. Hier wurde mir wieder einmal deutlich, wie sehr Metropolen wie Paris und auch Berlin das Prinzip der Sichtachse berücksichtigen. Schon aus über einem km Entfernung erblickt man die Michaeliskirche, einen durchaus mächtigen Bau. Durch die lange Anfahrt, bzw. Anlaufen, bei dem einem das Bauwerk immer größer erscheint, gewinnt es langsam an Mächtigkeit im Unterbewußtsein des Betrachters. Interessanterweise findet man diese Sichtachsen selten in gewachsenen Städten, die meist deutlich verwinkelter sind, aber viel mehr in Prestigestädten, in denen Herrscher ihre Macht demonstrieren wollten.
Schon ein kleines Stück vor der Michaeliskirche nahmen wir eine kurze Rechts-Links-Schikane durch die Köpenicker Straße in die Heinrich Heine Straße.

Bourgogne Pinot Noir 2005

Der Wein hat eine kirschrote Farbe. Die Farbtiefe ist gut ausgeprägt. Zunächst riecht er recht würzig mit Aromen von Vanille und Rosmarin. In der bereits präsenten Aromatik kommen auch fruchtige Noten hinzu. Nach dem Schwenken bleibt die Aromatik im Wesentlichen unverändert. Die Viskosität ist ordentlich ausgeprägt.

Der Wein besitzt einen eher mittelleichten Körper, gleitet aber sehr rund und füllig durch den Mund. Neben einer leichten Frucht, spielen geschliffene Tannine und Schokoladennoten im Geschmack mit. Der Nachhall wirkt recht erdig und verfügt über eine gute Länge.

Der Wein ist zwar sehr harmonisch. Gleichzeitig fehlt ihm jedoch ein untrügliches Charakterzeichen. Wahrscheinlich ist das für einen „einfachen“ Burgunder auch zu viel erwartet, aber für 11€ kriegt man auch in Deutschland vergleichbar gute Spätburgunder. Dieser hier ist handwerklich ausgezeichnet. Richtige Leidenschaft mag er aber nicht aufkommen lassen. Zumindest nicht für ihn. Zu einem im eine Stufe schlechteren Pinot zubereiteten Coq au vin als der Trinkwein.

Herkunft: Frankreich – Burgund
Jahrgang: 2005
Rebsorte: Pinot Noir
Erzeuger: Frédéric Magnin
Ausbau: AOC nicht filtriert
Alkohol: 12,5%

Die (perfekte) Welle

Er strömt herein wie eine Welle in der Flut
vor deren Macht Du Dich nicht duckst
bei deren Aufprall Du zusammenzuckst
Die Erschütterung folgt Dir bis ins Blut

Du brauchst keinen ritterlichen Mut
damit Du sie feierlich schluckst
Du wartest darauf daß sie wieder ruht
während Du ihr lange nachguckst

Als die Welle sich veflüchtigt
wirst Du traurig und sehnsüchtig
und wünscht Dir die Welle zurück

Du wußtest ja er ist berüchtigt
doch was hat sie Dich entzückt
was für natürliches magisches Glück

Bundestagswahl 2009 – die 8.

Nach den Ereignissen des heutigen Tags im bayrischen Ansbach fallen mir viele Möglichkeiten, den Beitrag von gestern fortzusetzen, aber ich halte das für wenig geschmackvoll.

Das was mich an solchen Tragödien neben der grausamen Tat an sich am meisten stört, ist daß die Täter gewinnen. Durch die mediale Präsentation wird dieser Irrsinn tatsächlich ihr Tag. Die Opfer, für die dies der mutmaßlich schlimmste Tag ihres Lebens ist, bleiben dagegen außen vor und werden zur bloßen statistischen Masse. Sicher wäre es falsch, die Opfer und ihre Angehörigen in ihrem Schmerz und ihrer Wut noch durch eine Zurschaustellung zu belästigen, aber ich empfinde es einfach als perfide, daß dem Täter die große Bühne geöffnet wird.

Erneut kann ich die Frage, was das mit dem Wahlkampf zu tun hat nicht vernünftig beantworten. Vielleicht nur das, daß keine Partei eine echte Lösung zur Verhinderung dieser Taten anbietet. Wahrscheinlich ist das auch zu viel von ihnen verlangt. So zynisch das klingen muß, es gibt im Leben ein gewisses Restrisiko, das man nicht eliminieren kann. Wenn es zuschlägt ist es immer tragisch, doch die Verhinderung solcher Tragödien kann wohl nicht Aufgabe der Politik sein. Damit habe ich schon viel zu viel für heute geschrieben.

Bundestagswahl 2009 – die 7.

Schon ein paar Tage her, daß ich mich zur Wahl äußerte. Dies liegt aber weniger am Thema selbst, als am Mangel an Zeit zum Schreiben und an Netzwerkproblemen.

Montag habe ich die Debatte der drei kleinen Kandidaten gesehen. Auch wenn die Debatte etwas hitziger war, als die der Elefanten Steinmeier und Merkel, war sie zugleich auch noch langweiliger. Ich kam mir vor, als würde ich gerade einer ganz normalen Talkshow folgen, inklusive den üblichen Schwanzvergleichritualen und der ewigen Frage, wer am unauffäligsten den anderen Wort ins Wort fallen kann, gleichzeitig aber natürlich wegen seiner brillanten rhetorischen Beiträge doch und zwar ausschließlich positiv auffällt. Wie meistens lautete die Antwort auf diese rhetorische Frage „Keiner.“

Diesmal fing die Debatte mit dem aktuellen Thema des Münchner S-Bahn-Mords an bzw. dem Thema der Verrohung der Gesellschaft oder zumindest der Jugend an. Es war interessant, wie sich die Antworten der drei Politiker glichen mit ihren Forderungen nach mehr Polizei und konsequenterer Ausnutzung des zur Verfügung stehenden Strafmaßes. Wenn ich mal davon absehe, daß ersteres Ländersache und zweiteres Sache der glücklicherweise unabhängig von der Politik agierenden Richter ist, bleibt für mich doch eine generelle beklemmende Beobachtung. Alle wollen, daß der Gärtner die Heckenschere nutzt, um das Unkraut kleinzuschneiden, doch keiner fragt sich, wie er es an der Wurzel bekämpft. Stattdessen wird für Düngemittel wie Fernsehen und Computerspiele ein Verbot gefordert. Nicht, daß ich hier falsch verstanden werde, ich halte diese landwirtschaftlichen Maßnahmen nicht für falsch, aber erstens mangelt es dann doch meistens an einer konsequenten Umsetzung, wohl auch weil die Politiker selbst nicht restlos von ihnen überzeugt sind, und zweitens führen diese Maßnahmen am Kern des Problems vorbei.

Ich glaube nicht, daß die Gewalttätigkeit und Verrohung der Gesellschaft ein Problem allein unserer Zeit ist. Schon immer gab es sinnlose und mutwillige Gewalt, und es gab genug Zeitpunkte in der menschlichen Geschichte, wo es Gegenden gab, wo schon ein falscher Blick langte, um verdroschen zu werden oder Schlimmeres. Die Frage, die ich daher stelle, ist, wieso es gelungen ist, so lange Zeit eine so ruhige und friedfertige Gesellschaft zu erreichen und am Leben zu erhalten?

M.E. hat dieser erreichte und jetzt auf dem Spiel stehende Zustand der Gesellschaft etwas mit Perspektiven und mit Integration zu tun.

Wer weiß, daß eine Gesellschaft ihm Chancen bietet, solange er sich an die Regeln hält und daß er etwas verliert, wenn er sich nicht an die Regeln hält, der hält sich eher an die Regeln, als derjenige, der ohnehin nicht zu verlieren hat. Härtere Strafen können daher nur dann erfolgreich sein, wenn der Bestrafte auf der anderen Seite eine Perspektive hat. Diese vermeintlich zugenommene Bereitschaft zur Gewalt und zur Verrohung im Allgemeinen rührt m.E. in erster Linie daher, daß diese Jugendlichen von der Gesellschaft alleine gelassen werden und ihnen keine Perpektive aufgezeigt wird, wie sie ihr Leben in den Griff bekommen können.

Neben fehlenden Perspektiven ist fehlende Integration ein zweites Kernproblem, daß zu unbegreiflichen Gewaltexzessen geführt hat. Es gibt Menschen, die zwar in der Gesellschaft im Allgemeinen zurecht kommen, in ihrem speziellen häuslichen sozialen Umfeld aber vereinsamen und isoliert leben. Der gesunde Menschenverstand sage einem, daß diese Menschen naturgemäß viel anfälliger für irgendwelche extremen Szenarien, psychische Probleme und Wahnvorstellungen sind, allein schon deshalb weil sie niemand haben, mit dem sie sich austauschen können und der in der Lage ist ihre fehlgeleiteten Gedanken zu kanalisieren. Daß an dieser Stelle nicht einmal immer Drogen ins Spiel kommen müssen, soll nicht an das Motto der Website erinnern, sondern aufzeigen, wie alleine diese Menschen sind, die nicht einmal Kontakte zu einem Dealer haben. Ob ein Verbot von Ballerspielen wirklich das ist, was diese Jugendlichen zurück in die Gesellschaft führt, wage ich doch anzuzweifeln.

In beiden Fällen, sowohl bei den Perspektiven als auch bei der Integration handelt es sich um individuelle wenn auch nicht vereinzelte Probleme. Diesen Problemen mit irgendwelchen Brachialmaßnahmen zu begegnen, besitzt m.E. wenig Aussicht auf Erfolg. Ich glaube, daß es für diese individuellen Probleme individuelle Lösungen braucht. Ein vernünftiger Streetworker kann hier unter Umständen mehr ausrichten als 5 Polizisten. Es braucht m.E. den Ausbau von sozialen Fördermaßnahmen, aber nicht solchen mit der Gießkanne, sondern solchen, wo die Jugendlichen direkten Kontakt mit Menschen haben, die auf ihre Probleme eingehen und versuchen, ihnen zu helfen. Hierfür gibt es kein Patentrezept, aber es gibt viele erfolgreiche Programme, die um jeden Euro kämpfen müssen oder geschlosssen werden, weil das Geld für ein politisches Prestigeprojekt benötigt wird. Und es gibt viele Ideen für Programme, die man initiieren könnte. Gerade die Vielfalt solcher Programme ist am ehesten geeignet, die Jugendlichen mit ihren individuellen Problemen abzuholen. Aber eine solche Antwort ist wahrscheinlich zu wenig populistisch und zu unkonkret für ein Parteiprogramm.

Was hat das jetzt mit der Debatte von Trittin, Westerwelle und Lafontaine zu tun? Wenig, sie war für mich nur der Auslöser mal wieder über die Kurzatmigkeit politischer Lösungen nachzudenken. Vielleicht schreibe ich morgen noch einmal über die drei, obwohl sie soviel Aufmerksamkeit meinerseits eigentlich nicht verdient haben, aber vielleicht ist auch das ein Kernproblem unserer Politik: Daß der mündige Bürger keine Lust mehr hat sich mit der Politik und den Politikern zu beschäftigen und sie deswegen mit ihrem Mist gewähren läßt.

Riesling vom Rotliegenden 2007

Der Wein hat eine glanzhelle Farbe mit leicht gelblichen Einschlag. Die erste Nase ist mäßig intensiv und fruchtig mit Pfirsichduft und exotischen Noten. Die zweite Nase nimmt an Intensität deutlich zu. Die Pfirscharomatik wird jetzt von kräutrigen Anklängen begleitet.

Am Gaumen fällt zunächst die stahlige Säure auf, die dem Wein einen leicht rustikalen Charakter verleiht. Dazu besitzt er einen mittelschweren Körper, der ihm zusätzliche Kraft verleiht. Die richtige Klasse verrät der Wein jedoch erst, wenn er den Mund verlassen hat. Dann setzt ein zweistufiger Nachhall mit einer sehr guten Länge ein. In der ersten Stufe schlägt noch einmal die rustikale Würze ein, bevor dann eine leichte Mineralik nachhakt und lange im Mund verbleibt.

Normalerweise ist dies der Platz für die Begleitempfehlung zu dem Wein. Diesmal empfehle ich nichts zu dem Wein. Es lohnt sich den Nachhall lange nachzuhängen und dem Wein die volle Aufmerksamkeit zu widmen. Das ist schon sehr schöner Stoff. Ein Kokser würde wohl von der hohen Reinheit des Stoffs sprechen, doch glücklicherweise wird auf dieser Website nur der Alkohol angepriesen und alle anderen Drogen verteufelt.Kaum zu glauben finde ich, daß der Winzer den Wein immer noch verkauft. Den hätte man ihm eigentlich schon längst aus den Händen gerissen haben. Zumal ich auch Händler kenne, denen genau dieser Wein extrem gut gefällt.

Herkunft: Deutschland – Pfalz – (Birkweiler Kastanienbusch)
Jahrgang: 2007
Rebsorte: Riesling
Erzeuger: (Peter) Siener
Ausbau: QbA trocken
Alkohol: 12%

Negroamaro 2007

Der Wein trägt ein kirschrotes Kleid. Die Farbtiefe ist gut ausgeprägt. Kirsche findet sich auch in der ordentlich intensiven ersten Nase zusammen mit einem leichten Kräuterduft. Die zweite Nase legt an Intensität zu. Jetzt kommen Pfeffer und Vanillearomen ins Spiel. Die Viskosität ist ordentlich ausgeprägt.

Am Gaumen verliert der Wein deutlich. Die bitteren Noten sind dominant und nicht gut eingebunden. So wirkt er eher wie eine böse Medizin. Der Nachhall ist weniger beißend und besitzt eine gute würzige Länge. Auch vorhandene Frucht wird von der Bitternis übertüncht.

Der Wein ist nichts für schwache Gemüter und auch nichts für Genießer. Eher für Leute, die ihre Geschmacksnerven bereits verloren haben. Vielleicht zu einem Chili Con Carne extra scharf mit doppelt viel Tabasco.

Herkunft: Italien – Apulien – Salento IGT
Jahrgang: 2007
Rebsorte: Negroamaro
Erzeuger: Angio Archeo
Alkohol: 13%

Bundestagswahl 2009 – die 6.

Ich bin unsicher, welche Bedeutung dem Rededuell zwischen Angela Merkel und Frank Steinmeier beikommt. War der Wahlkampf bei den vergangenen Wahlen durch eine Polarisierung zwischen den Spitzenkandidaten spannender, wirkt er diesmal durch die Gleichartigkeit der nüchtern bis langweiligen Kandidaten eher uninteressant. Die Unterschiede zwischen den Personen sind einfach zu gering. Vielleicht macht dies das Rededuell doch interessant, weil man die kleinen Unterschiede erkennen will.

Was dann kam, fand ich erschreckend in vielerlei Hinsicht. Erschreckend langweilig zum Einen, weil das ganze viel zu zivilisiert war. Ebenfalls erschreckend war es für mich, wie beide das gemeinsam in der großen Koalition Erreichte immer wieder lobten, anstatt den Stillstand zuzugeben. Fast am meisten erschreckend fand ich jedoch das Verhalten der Journalisten. Die Art und Weise der Fragestellung war schon merkwürdig. Investigativer Journalismus zeichnet sich nicht dadurch aus, daß man den Kandidaten ins Wort fällt, daß man in einer Frage eine persönliche Wertung über den Kandidaten mitgibt (Klöppel: „nicht vertrauenswürdig“) oder scheinheilig nach Ministerin Schmidt fragt und angeblich nicht auf den Dienstwagen hinaus will. Für so blöd halten nicht einmal Politiker den Fernsehzuschauer, aber vielleicht kennen die Medienprofis ihr Publikum ja besser.
Noch mehr als das persönliche Auftreten der Journalisten hat mich gestört, daß zwei m.E. zentrale Themen für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes komplett außen vor geblieben ist, nämlich Bildung und Integrationspolitik. Gerade vor dem Hintergrund der immer wieder beschworenen und angesprochenen sozialen Gerechtigkeit sind diese Themen von äußerster Bedeutung. Ebenso blieb für mich Fragen nach dem Überwachungsstaat, den der Mann der tausend Augen, Wolfgang Schäuble, aufbauen will, außen vor. Ich will gar nicht bestreiten, daß die diskutierten Themen wichtig waren, aber Bildung und wie man im Bildungssystem jedem Mitglied unserer Gesellschaft die gleichen Chancen sichern will, ist doch die Kernfrage, wenn man beantworten will, wie die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs für jedermann gesichert wird. Und die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs für jeden ist für mich die Basis der sozialen Gerechtigkeit.
Ich kann mir vorstellen, daß Steinmeier das Duell mehr geholfen hat als Merkel. Das liegt nicht daran, daß er besonders gut oder besser als sie war, sondern daran, daß sie genauso farblos wie er daher gekommen ist.
Nur zweimal wagte Steinmeier den Ansatz eines Angriffs. Das erste Mal recht früh als Merkel den Rückgang der Arbeitslosigkeit für die CDU geführte Regierung beanspruchte und das zweite Mal, als er die Steuersenkungen als unrealistisch einstuft.
Bei vielen der angesprochenen Themen waren beide sich dagegen so einig, daß man die Unterschiede fast nur noch in der Wortwahl fand, etwa bei der Beurteilung der Opel-Rettung, dem Afghanistan Einsatz oder den hohen Staatsschulden in Folge der Wirtschaftskrise. Hier zeigte sich wohl auch, daß die gemeinsame Regierung die beiden dazu zwingt, auch jeweils die Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen zu tragen.
Bei vielen Themen wie Mindestlohn, Managergehältern oder Gesundheitswesen zeigte sich das, was bereits frühere Wahlkämpfe zeigten. Die Unterschiede sind marginal. Die Ziele meist die Gleichen.
Persönliche Angriffe blieben aus, auch wenn die Journalisten sich bemühten zaghafte Vorlagen zu geben. So weit sind wir wohl in Deutschland noch nicht. Oder wir müßten Schröder und Seehofer in den Ring holen.
Wesentliche Unterschiede zwischen beiden gab es nur in der Atompolitik und in der Frage nach möglichen Steuersenkungen nach der Wahl, die Steinmeier für unrealistisch hielt.
Bei den zentralen Themen des Abends Wege aus bzw. nach der Wirtschaftskrise blieben beide sehr unkonkret, so daß es Steinmeier auch nicht gelungen ist, die SPD als Garanten für die soziale Gerechtigkeit darzustellen, auch wenn dies erkennbar sein Ziel war. Bei Angela Merkel war es fast bizarr, daß sie zum Schluß das Ziel „Arbeit für alle“ als realistisch bezeichnete, nachdem Steinmeier in den letzten Tagen für das gleiche Ziel nur Hohn und Spott erntete. Wieso die CDU der Garant für Arbeitsplätze ist und nicht die SPD, konnte Merkel aber auch nicht verdeutlichen.
Amüsant war die Position zur sozialen Marktwirtschaft. Merkel outete sich, höchst unerwartet, als Anhängerin der sozialen Marktwirtschaft und sprach davon, daß diese sich in Folge der Krise ändern müsse. Steinmeier widersprach und forderte einen Neustart der sozialen Marktwirtschaft, woraufhin Merkel sagte, die soziale Marktwirtschaft brauche keinen Neustart. Vielleicht verstehe ich das nach der Wahl.
Auffällig war noch, wie sehr die Kanzlerin die Notwendigkeit internationaler Lösungen betonte, vielleicht auch weil sie auf diesem Gebiet ihre größten Scheinerfolge erreicht hat, während der Außenminister immer wieder den Bedarf an nationalen Regelungen ins Spiel brachte.
Aus meiner Sicht ein klares Unentschieden der schlechteren Art. Ein eher langweiliges 0:0.

Mehringer Blattenberg Auslese Schieferterrassen 2007

Der Wein hat eine strohgelbe Farbe. In der ersten Nase durftet er nach Zitrone und etwas Melisse. Die zweite Nase ist etwas intensiver mit sehr fruchtiger Aromatik, insbesondere nach Apfel.

Der Wein besitzt einen eher leichten und filigranen Körper. Er verfügt über einen außerordentlich ausgeprägten Fruchtkorb. Der Nachhall besitzt eine gute Länge.

Ein sehr schöner überraschend leichter Wein mit einer angenehmen Süße. Interessant, wie einem zu einem Wein keine großen Worte einfallen, auch wenn er mir sehr gut gefällt. Ich glaube, er paßt gut zu einem Kiwisorbet.

Herkunft: Deutschland – Mosel – Mehringer Blattenberg
Jahrgang: 2006
Rebsorte: Riesling
Erzeuger: Eugen Philippi
Alkohol: 8%
Ausbau: Auslese „edelsüß“

Bundestagswahl 2009 – die 5.

Wie ich bereits angedeutet habe, war ich früher deutlich mehr an Politik interessiert. Ich hing dem Glauben an, Politik könne etwas verändern. Ich wuchs in der Post-68er Generation auf, sprich bei Eltern, die an Politik glaubten und daran das Politik etwas verändern kann.
Ich glaube, dieser (Irr-)Glaube ist das, was derzeit den größten Beitrag zur Politikverdrossenheit leistet. Für die Generation vor meiner Generation war Krieg eine reale Konstante ihres Lebens. Auch wenn sie den Krieg nicht mehr miterlebt haben, waren die Folgen des Kriegs in Form von Ruinen und Kriegsversehrten und durch Verstorbene zerrissene Familien stets präsent. Krieg schien keine hypothetische Frage zu sein, vielmehr eine reale Bedrohung deren mörderische Existenz in dem nuklearen Zeitalter für eine stetige Beklommenheit sorgte, wenn es um Fragen der Politik ging.
In meiner Generation kommen zerrissene Familien durch Scheidung oder durch einen unglücklichen Schicksalsschlag zu Stand. Wer den Verstand nicht vollständig verloren hat, kommt nicht auf die Idee die Kanzlerin oder den Senator oder den Minister dafür verantwortlich zu machen, daß Mama und Papa sich nicht mehr mögen, oder daß Tante Frieda an Krebs stirbt.
Die unmittelbare und fatale Wirkung der Politik in die Tiefe des Privaten wirkt also längst nicht mehr so präsent wie etwa vor 20 Jahren, als es der Politik vielfach gelungen ist, seit Jahrzehnten zerrissene Familien wiederzuvereinen, weil die Bürger sich im unterdrückten Teil unseres Landes gegen ihre Unterdrückung auflehnten und ihre Freiheit erfolgreich durchsetzten.
Daß diese Wiedervereinigung in dem ein oder anderen Fall vielleicht auch bittere Erlebnisse offenbarte, etwa weil sich der Blutsverwandte den man bisher allenfalls aus Briefen kannte als Arschloch entpuppte oder weil die Träume vom westlichen Schlaraffenland zerplatzten, kann zur Verdrossenheit über die Politik, vorsichtig gesprochen, beigetragen haben.
Schließlich versprach diese blühende Landschaften, garantierte, daß es zu keinen Steuererhöhungen in Folge der Wiedervereinigung kommen würde und noch dazu daß die Rente sicher sei. Ohne die Wiedervereinigung könnte ich mir Westdeutschland tatsächlich etwa auf dem Niveau der Schweiz vorstellen, was hieße, daß sich die dramatischen sozialen Spannungen infolge des demographischen Wandels um vielleicht 10-15 Jahre verschoben hätten (laienhafter Eindruck, besser mutige Unterstellung ohne irgendeinen Beleg). Wie dem auch sei, es sind genau diese dreisten Versprechen, die nichts anderes als unverschämte Lügen waren, die den Glauben an die Politik und an Demokratie massiv untergraben haben.
Belügen lassen konnte man sich auch in einem System, in dem man noch in der festen Sicherheit lebte, daß das allenfalls auf dem Papier unter Druck gewählte Regime einen belog. Daß dies auch in der sogenannten Freiheit passierte, mag für den ein oder anderen Befreiten wie ein Schlag ins Gesicht erschienen sein, insbesondere wenn er gleichzeitig damit konfrontiert wurde, seinen sicher geglaubten Job zu verlieren, von einem westdeutschen Vertreter gutgläubig über den Tisch gezogen zu worden sein und festzustellen, daß die eigenen Beiträge zur Rentenversicherung nicht mehr viel Wert waren. Dies mag die Milde gegenüber den Nachfolgeparteien der SED, PDS bzw. LINKE in den ostdeutschen Ländern vielleicht zumindest teilweise erklären.
Ein wesentlicher Unterschied gegenüber der Welt vor 1990, also vor dem Triumph bei der Fußball-WM, ist der, daß die Welt nicht mehr abgeschottet ist. Der Weltmarkt war damals noch nicht wirklich greifbar. Vielmehr gab es einen sozialistischen und einen kapitalistischen Weltmarkt, die nur rudimentär miteinander in Verbindung standen. In dieser begrenzten Welt gab es Schranken und Grenzen überall. Der regionale Markt besaß eine viel größere Bedeutung, weshalb sich regionale Gesetze viel besser durchsetzen ließen und der Einfluß der Politik auf die Wirtschaft noch viel größer war. Damals kannte man vielleicht noch „Made in Taiwan“ und „Made in Korea“, doch weitere weitaus größere asiatische Staaten schienen in der westlichen Welt nicht existent zu sein.
In der Welt nach 1990 haben wir erlebt, daß die Politik ihre Versprechen nicht erfüllen konnte. Statt blühenden sehen wir verödende Landschaften. Versprechen, Arbeitsplätze zu schaffen, wirken einfach nur hohl, da den meisten klar ist, daß die Abhängigkeit der lokalen Wirtschaft von der Weltwirtschaft und der internationalen Konkurrenz weitaus größer ist, als die von der lokalen Politik.
Dies ist vielleicht die schlimmste Lüge, welcher die Politiker derzeit nicht begegnen, sondern leben. Sie tun so, als hätten sie nach wie vor unbeschränkten Einfluß auf die Dinge, die in diesem Land abgingen, obwohl mittlerweile fast jedem klar ist, wie gering der Einfluß geworden ist. Ich glaube, es ist gar nicht die Diskrepanz zwischen dem, was Politiker versprechen und dem was sie halten, sondern vielmehr die Diskrepanz zwischen dem, was Politiker versprechen und dem was sie überhaupt beeinflussen können, die für eine solche Verzweiflung und Frustration unter den Wählern sorgt.
Ich könnte mir ja sogar vorstellen, mich in eine CDU-Anhängerin zu verlieben und wäre mir dabei sicher, daß Angela Merkels Veto das geringste Übel für den Ausgang unserer Beziehung wäre. Was ich mit diesem völlig unzusammenhängenden Einwurf aufzeigen will, ist, daß für den Wähler der Einfluß der Politik auf seine persönliche Umgebung nicht sichtbar ist. Genauso wenig sieht er die Chance, daß die Politik noch einen globalen Einfluß hat.
Fast tragisch wirkt es auf mich, daß ich derzeit das Gefühl habe eine Wiederholung des Wahlkampfs von 1990 zu erleben. Die CDU verspricht Steuersenkungen oder gar das Blaue vom Himmel, während die SPD für das Bemühen einen Wahlkampf der Ehrlichkeit erneut einen deftigen Tritt in den Arsch bekommt. Vielleicht erklärt diese Belohnung der offensichtlichen Lügen den Drang zum Lügen – der Wähler hat eben wie auch der Mensch im Allgemeinen etwas Selbstzerstörerisches an sich. Kein Wunder, daß die Politiker sich im Wahlkampf nicht auf das realistisch Erreichbare beschränken.