Nicht deutete an diesem Tag auf den Regen des Vortag hin. Bei für die Zuschauer angenehmen Temperaturen und Sonnenschein startete der Marathon der Männer um 11:45, was für die Läufer dann natürlich schon fast zu spät war. Für mich bot es genug Zeit, um nach einem morgendlichen Lauf an die Strecke zu kommen. Ob es nun gut war, daß der Marathon komplett in der Stadt verlief und sein Ziel am Brandenburger Tor statt im Stadion hatte, oder nicht, ist eine schwierig zu beantwortende Frage.
Die vier Runden boten den Zuschauern die Gelegenheit, die Läufer häufiger hautnah zu sehen. Dies war in Göteborg aber auch möglich trotz Zielankunft im Stadion. Andererseits waren so keine Zuschauer im Stadion und dafür mehr Zuschauer an der Strecke, welche die Läufer zusammen mit den ohnehin marathonbegeisterten Berlinern anfeuern konnten. Aus eigener Erfahrung weiß ich auch, wie geil ein Zieleinlauf durch das Brandenburger Tor ist, wobei ich mich als Deutscher dabei natürlich auch emotional stark an das Tor gebunden fühle. Für den Zuschauer von Nachteil war jedoch die geringe Anzahl an Leinwänden entlang der Strecke, so daß man den Marathon eigentlich nur am Brandenburger Tor durchgängig verfolgen konnte. Auch nervig waren die unnötig strengen Streckenposten, die ein Überqueren der Straße fast unmöglich machten, obwohl es große Zeitfenster zwischen den Läufern gab. Solche Kontrollen würde ich mir mal bei einem vollen Marathonfeld wünschen.
Mit einigen anderen stand ich an der Siegessäule und machte es mir in den, da das Feld immer weiter auseinanderriß, stetig kürzer werdenden Pausen auf dem Rasen bequem. So hatte ich zwar einen sehr faulen und beschaulichen Vormittag, erfuhr von dem Sieger Kirui aber erst aus dem Fernsehen mit deutlicher Verspätung.
Im Anschluß an den Marathon erfolgte übrigens auf der gleichen Strecke ein 10km-Rennen für Hobbyläufer, der sogenannte Champions-Run, von dessen Organisation mir Mitlaufende sehr Schlechtes berichteten. Schade eigentlich. Schließlich gibt es in Berlin wahrlich genug Know-How, um große Laufveranstaltungen zu organisieren. Mich hatte insbesondere der Preis gestört, den ich als Abzocke empfand. Den Lauf als Charity-Run zu bezeichnen, empfand ich als zusätzlichen Hohn. Von den 27 Startgeld gingen sage und schreibe 2 an eine Hilfsorganisation, deren guter Name damit so in den Schmutz gezogen wurde, daß ich ihn lieber nicht nennen will. Hätte der Lauf das Gleiche gekostet und wären 12 an eine Wohltätigkeitsorganisation gegangen, wäre ich wahrscheinlich gerne gelaufen. Immerhin ist mir so das Chaos erspart geblieben.
Der Abend sollte der Abend der Verletzten werden. Doch das konnte zunächst noch niemand wissen. Zunächst sah es so aus, als sollte es vor allem der Abend werden, an dem das Olympiastadion tatsächlich nahezu vollständig gefüllt war. Aber obwohl es seit Wochen hieß, daß dieser Abend ausverkauft sei, blieben doch noch vielleicht 5.000 Plätze frei. Auf jeden Fall war es ein anderes Publikum, das mir etwas weniger Leichtathletik-versiert und etwas mehr national begeistert erschien. Natürlich wurden auch in den Vortagen, die deutschen Athleten besonders angefeuert – auch von mir – aber die Relationen zu dem Anfeuern fremder Athleten schien zu stimmen und gewährte auch diesen einen fairen Beifall für gute Leistungen sowie Unterstützung bei dem Erzielen solcher. Das Publikum war eben auch überaus sportlich. So leid es mir tut und so sehr ich damit wohl auch eine Einzelmeinung verkörpere: die 4*400-Staffel der Frauen war für mich beinahe der negative Höhepunkt. Für den Vorlauf der deutschen Staffel stand das ganze Stadion die volle Zeit. Sicher war das eine tolle, vielleicht sogar einzigartige, Stimmung, aber wenn ich das mit dem müden und nicht mal ernsthaft bemühten Applaus für den frisch gebackenen Weitsprungweltmeister Dwight Phillips vergleiche, möchte ich mich bei diesem eigentlich für das Publikum entschuldigen.
Wettkampf des Abends war für mich aber weder der 4*400m-Vorlauf noch das Weitsprungfinale sondern der Hammerwurf der Frauen. Anita Wlodarczyk muß es mir verzeihen, daß ich zuerst von der sensationellen Leistung von Betty Heidler schwärme. Sie bot einen wahnsinnigen Wettkampf. Sie fing mit einer Superweite von knapp über 75m an und steigerte sich mit jedem weiteren Wurf bis zur persönlichen Bestweite und neuem deutschen Rekord von 77,12m. Nur ein Wurf von ihr fiel aus der Reihe und blieb knapp unter 75m. Die Größe dieser Leistung wird deutlich, wenn man bedenkt, daß Heidler sich mit jedem ihrer 5 Würfe über 75m die Goldmedaille verdient hätte…, ja wenn nicht die Polin Anita Wlodarczyk in dem einzigen Nicht-Heidler-Wurf des Abends über 75m einen neuen Weltrekord aufgestellt hätte. Abgerundet wurde das Hammerwerfen von einem tollen 4. Platz der zweiten Deutschen Kathrin Klaas, die sich nur knapp geschlagen geben mußte. Fairerweise muß ich betonen, daß der Polin sicher noch weitere gute Würfe zuzutrauen gewesen wären, hätte sie sich nicht bei den Jubelsprüngen über den Weltrekord ihren Knöchel verstaucht. So mußte sie auf weitere Würfe verzichten und bewies aber Humor als sie zur Kür des 6. Versuchs antrat und den Hammer spielerisch aus dem Stand etwa 30m weit warf. Dies war also der erste Teil des Abends der Verletzten.
Der Abend der Verletzten sollte sich beim 4*100m Staffellauf fortsetzen. Die US-Amerikanerinnen sollten diesmal einen besonders schmerzhaften Wechsel erleben. Als die 3. Läuferin Muna Lee den Stab entgegennahm, spürte sie eine üble Verletzung und sprang humpelnd in Richtung Bande. Diesmal waren Sanitäter zur Stelle und mußten sie minutenlang behandeln. Die Staffelläuferinnen bewiesen dabei einen tollen Teamgeist und wichen nicht von ihrer verletzten Kameradin und begleiteten sie auch ins Stadioninnere. Da boten US-Staffeln in der Vergangenheit schon Gelegenheiten für andere Bilder. Als die drei Unverletzten kurz darauf zurück kommen mußten, verabschiedeten sie sich winkend und lächelnd vom Publikum. So sehen die Sieger der Herzen aus.
Durch den Ausfall der US-Staffel konnte die deutsche Staffel sensationell Bronze gewinnen. Für dieses Finale stand ich auch gerne auf. Verena Sailer stürzte dabei ins Ziel und zog sich schwere Schürfwunden zu, so daß sie die Ehrenrunde und die verdienten Standing Ovations mit einem schmerzverzerrtem Lächeln genießen mußte. So viel zum 2. Teil des Abends der Verletzten.
Der dritte Teil des Abends der Verletzten war der Stabhochsprung. Sowohl beim Hochsprung als auch beim Stabhochsprung konnten wir in den vergangenen Tagen Favoriten beim Pokern sehen, die daran teilweise scheiterten. Als Steven Hooker verkündete, erst bei 5,80m einzusteigen, war jedoch klar, daß er mit einem anderen Blatt pokerte als Elena Isinbaeva oder Ariane Friedrich. Hooker hatte Nichts in der Hand und setzte alles auf dieses miese Blatt. Es war nicht überraschend sondern folgerichtig, daß Hooker angesichts der erfolgreichen Konkurrenz seinen Einstieg sogar noch einmal hinaus schob. Die Frage war einfach nur, wieviele Sprünge Hookers schmerzender Körper ihm erlauben würde. Er wußte, daß ihm ein Sprung zum Sieg reichen mußte, und so war es weiterhin konsequent, als der Franzose Mesnil 5,85m übersprang seine zwei verbleibenden Versuche nach 5,90m zu verschieben. Als Hooker dann tatsächlich 5,90m im 1. überquerte, ging ein Raunen durch die Menge. Hooker selbst konnte seinen Triumph nicht fassen und schien fast schuldbewußt, als er den Franzosen Mesnil und Lavillenie gratulierte. Sein Trainer vergrub lange Zeit ungläubig das Gesicht in den Händen. Ein toller Erfolg für den sympathischen Australier.
Für mich gab es einen weiteren Magic Moment an diesem Abend, der das Besondere an Leichtathletik-Weltmeisterschaften beinhaltete. Binnen zwei Minuten warf die Polin Anita Wlodarczyk Weltrekord, stand der Weitspringer Dwight Phillips als Weltmeister fest und gingen die 5.000m Läuferinnen in die letzte Runde, an deren Ende die Kenianerin Vivian Cheruiyot triumphieren sollte. Diese Überschneidung, ja gar das Überschlagen der Ereignisse, war ganz typisch für diese WM, bei dem einem keine Sekunde langweilig war und man immer wieder vom nächsten Ergebnis überrascht wurde. So ging es auch der Wetrekordlerin Anita Wlodarczyk, die nur mit Mühe von den Streckenposten davon abgehalten werden konnte, mitten im Finale des 5.000m Laufs die innere Laufbahn zu überqueren.