Berlin-Marathon Teil 2 und Schluß

Hier machten die Zuschauer den Veranstalter einen Strich durch die Rechnung und verengten die Fahrbahn. Dies bot Tour de France Stimmung in zweierlei Hinsicht. Erstens bot der enge Kontakt mit frenetisch feiernden Zuschauern einfach eine Gänsehautatmosphäre. Zweitens wurde das Läuferfeld so verdichtet, daß man aufpassen mußte, dem Vordermann oder der Vorderfrau nicht in die Hacken zu laufen.
Eigentlich bereits seit km 2 war das Wetter der Gegner der Läufer. Ich kann mich nicht entsinnen bei einem Marathon schon so früh mit dem Schwitzen begonnen zu haben. Die offiziellen Temperaturen waren wahrscheinlich gar nicht so hoch, aber die Sonne knallte ziemlich gnadenlos auf uns herunter und man konnte ihr natürlich nicht 42 km lang ausweichen. Viel Trinken war also angesagt. Sonst nehme ich auf den ersten 20km gerne nur 2 Versorgungsstellen wahr. Hier nutzte ich zumindest alle 5 km einen Versorgungsstand. Berlin zeichnet sich dadurch aus, daß ab km 10 alle 2-3 km ein Versorgungsstand am Streckenrand steht.
Die nächste Abzweigung führte uns in Richtung km 15 und zum Kottbusser Tor. Ich bin ja überzeugt, daß wenn Alfred Döblin heute Berlin Alexanderplatz schreiben würde es Berlin Kottbusser Tor heißen würde. Die Trostlosigkeit dieser Gegend im Herzen des pulsierenden Kreuzbergs hat etwas sehr Trauriges und zugleich schaurig Faszinierendes. Zwei der Dreimal, die ich jemand am hellichten Tag gesehen habe, der sich auf offener Straße einen Schuß setzt, was für mich mit das abstoßenste und zugleich verzweifelste Bild menschlichen Daseins aufzeigt, kamen in dieser Gegend vor. Und doch hier in Kreuzberg kriegt man die besten Döner Deutschlands.
Bei km 15 stand eine 1:10:46 als Bruttozeit auf der offiziellen Uhr. Meine Rechenkünste hatten offensichtlich schon einen leichten Sonnenstich abbekommen, denn ich ging davon aus, auf eine 3:20 zuzulaufen. Als ich nun auf dem Kottbusser Damm den im Schottenkostüm verkleideten Zug- und Bremsläufer für 3:15 passierte, wollte ich ihm schon zurufen, daß das mit 3:15 nichts wird, aber ich konnte meine Häme dann doch zurückhalten, wahrscheinlich weil die mathematische Region meines Gehirns doch einen sachten und nur unterbewußt vernehmbaren „das stimmt nicht“-Impuls sendete.
Am Hermannsplatz konnte ich endlich erkennen, wofür eigentlich die MLPD steht, die entlang der Strecke viele Plakate plaziert hatte. Es ist nicht, wie von mir spekuliert, die Nachfolgepartei der APPD, der anarchistischen Pogo Partei Deutschland, sondern die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands, die damit wirbt Kapitalismuskritik im Original zu liefern. Es mußte ja einen Grund geben, wieso die Partei bei mir im Wahl-O-Mat durchgefallen war. Am Hermannsplatz bogen wir ab auf einen klaren Westkurs in die Hasenheide, der sich über fast drei km in die Gneisenaustraße fortsetzte. Hier überkam mich wieder etwas wie die reine Freude am Laufen. Es war einer dieser Momente, in denen man mit sich selbst und dem Lauf an sich zufrieden ist und ihn einfach nur genießt. So ging es durch die Yorckstraße in brutto 1:33:12 an km 20 vorbei. Damit war ich, was mir zu dem Zeitpunkt nicht bewußt war, die zweiten 10km in exakt 45:00min gelaufen und damit viel zu schnell, was mir schon allein deshalb eher präsent war, da meine Muskeln doch sich das erste Mal, wenn auch noch auf harmlose Art und Weise bemerkbar machten.
Jeder Läufer hat ja eine unterschiedliche Antwort darauf welcher Punkt in einem Marathon besonders kritisch ist. Meistens kann man sich auf die Strecke nach km 30 oder 35 als Größtem Gemeinsamen Nenner einigen, und sicher ist jeder Lauf anders. Ich stelle immer wieder, gerade in Berlin, fest, wie wichtig die km 20-25 sind. Der Läufer ist in einen gewissen Trott geraten, kommt mit seinem Tempo noch relativ gut klar und gerät in Gefahre es sich gemütlich zu machen, was angesichts der tollen Stimmung an Potsdamer- und Grunewaldstraße eigentlich verwunderlich ist. Aber gerade hier gerät der Läufer in Versuchung das Tempo zu verschleppen, so daß dies in der Vergangenheit für mich ein Punkt war, an dem ich mich aus Gruppen gelöst habe und versuchte das Tempo zu forcieren und gleichzeitig Probleme hatte, es überhaupt zu halten. Die Strecke führt in diesem Abschnitt durch die Martin-Luther-Straße am Rathaus Schöneberg vorbei streng nach Süden in die Hauptstraße, ein Straßenname, der mich in einer Stadt wie Berlin jedesmal schmunzeln läßt. Leider drosselte ich mein Tempo nur unmerklich und passierte die 25km-Marke in brutto 1:55:54, was 22:42 für die letzten 5km bedeutete.
Kurz darauf wieder auf Westkurs Schöneberg verlassend und nach Dahlem einlaufend, traf ich auf Till Teuber aus Hamburg, der für die Lebensfitness e.V. lief und wir liefen für 1,5 km zusammen. Er erzählte mir, daß es bei ihm jetzt schon der 19. Berlin-Marathon war, er ebenso untrainiert war wie ich, sich ähnlich wie ich deshalb an den 3:30 orientierte und ebenso eigentlich zu schnell lief, aber es gleichfalls nicht tragisch fand. Er hatte mitbekommen, daß Haile wohl 30 Sekunden unter Weltrekordkurs lag, und wir konnten spekulieren, ob er jetzt schon im Ziel war. Wieder alleine lief ich durch die Lentzeallee. Früher, als das Ziel noch in der Tauentzienstraße lag, war dieser Streckenabschnitt den Läufern geradezu verhaßt. Damals kam man hier auf die magischen 35km zu durch die ganz leicht aber doch bemerkbar ansteigende Lentzeallee, die sich endlos lang bis zum Wilden Eber hinzieht. Die Zuschauer wußten das, und so wie der Anstieg verhaßt, war der Wilde Eber bei den Läufern beliebt, hatte man hier doch das Ende des Anstiegs erreicht, und traf auf eine Masse an Zuschauern die eine bombastische Stimmung verbreiteten. Heute passiert man km 28 und der an und für sich harmlose Anstieg ist immer noch eine Qual. Geblieben sind auch, und das ist den Einwohnern Dahlems hoch anzurechnen, die Zuschauermassen. Am wilden Eber ist eine Bühne für eine ausdauernde Tanzgruppe aufgebaut, die hier zu heißen Sambaklängen eine Wahnsinnsstimmung macht. Durch die Rheinbabenallee ging es jetzt Richtung Nordwest und am Hohenzollerndamm hatten wir den westlichsten Punkt der Strecke erreicht. Jetzt ging es den langen Hohenzollerndamm entlang bis zum Fehrbelliner Platz bei km 32. Km 30 erreichte ich nach brutto 2:18:21, womit ich zwischen km 25 und 30 exakt eine Sekunde langsamer lief als zwischen km 15 und 20. Die km-Zeiten pendelten sich auf 2 Sekunden genau um 4:30 min ein, trotz des Anstiegs der Lentzeallee.
Die Strecke am Hohenzollerndamm ist mit die langweiligste des gesamten Marathons. Vorbei an westdeutschen Plattenbauten, Bürogebäuden und so gut wie keinem Publikum läuft man nach Nordost bis es am Fehrbelliner Platz durch die Brandenburgische Straße in die Konstanzer Straße geht. Mir wurde klar, daß ich meinen Psychotrick von langen Trainingsläufen noch gar nicht angewandt hatte. Dort rede ich bei km-Marken vor mich hin „Nur noch 10 km“, auch wenn es noch weit mehr als 10 km sind, und auch wenn es schon längst keine 10 km mehr sind. Jetzt waren es weniger als 10 km, so daß ich auf diesen Trick nicht mehr bauen konnte. Das Erreichen des 33-km-Schilds versetzte mich dennoch irgendwie in Hochstimmung, war ich doch immer noch gut auf den Beinen. Das mich hier in der Konstanzer Straße vor der freundlichen Cornelia Apotheke meine Familie und deren Bekannte feierten verstärkte dieses Hochgefühl noch. Da ich mich recht gut fühlte, und die Zeit ja auch wirklich keine Rolle spielte, erlaubte ich mir hier auch einige Späßchen mit meinen Lieblingszuschauern. Ich konnte meiner Tante ansehen, daß sie das neunte Jahr in Folge die Aufputschmittel vergessen hatte. Da ich mich ohnehin noch gut fühlte, entschied ich mich dazu, einfach weiter zu laufen und sie nicht nach irgendwelchen Mittelchen kramen zu lassen. O.K., eigentlich sollte ich über dieses Thema keine Witze machen, aber seit wann besitze ich guten Geschmack?
Ziemlich genau ab hier nahm die Kulisse wieder zu. Als ich kurz darauf auf den Kudamm einbog, war es wieder phantastisch, wie viele Menschen hier an der Kurve und entlang beider Seiten des Kudamms standen. Das war Athmossphäre pur. Km 34 und 35 wurden mit 4:22min und 4:23min dann auch die schnellsten km meines Laufs.
Das was jetzt kommt möchte ich unter ein Zitat aus dem Film „Spiel auf Zeit“ mit Nicholas Cage stellen. Die Schlüsselszene, in der Box-Champion auf Kommando zu Boden geht, um von einem gleichzeitig stattfindenden  Attentat abzulenken, wird durch das Kommando „Jetzt kommt der Schmerz“ eingeleitet.
Jeder Läufer kennt die Geschichten vom Mann mit dem Hammer, entgegnet routiniert, daß das ja stimme, aber das Training von langen Läufen ja das A und O sei und blablabla. Ich hatte in meiner knapp bemessenen Vorbereitung nur einen Lauf über 35km. Und jetzt kam, pünktlich wie die Maurer, der Mann mit dem Hammer. Er drosch auf mich ein und schrie mir mit einer widerwärtig lachenden Visage ins Gesicht: „Jetzt kommt der Schmerz.“ Die noch ausstehende Strecke könnte ich also mit einer permanenten Wiederholung des Worts Auuu beschreiben, doch dies würde nicht ganz stimmen, denn es waren nicht die Muskeln die schmerzten, sondern die allgemeine Erschöpfung. Wenn also einer der Leser einen passenden Ausdruck für Röcheln kennt, können wir an dieser Stelle den Bericht damit gerne an dieser Stelle zu Ende führen.
Hier am alten Ziel beim Wittenbergplatz traf ich auf einen Läufer mit Shirt-Aufdruck „Projekt 2:99 – Hauptsache unter 3“. Ich munterte ihn auf, und beruhigte ihn, daß er sein Projektziel locker erreichen wird. Bis km 38 konnte ich mich noch ein wenig mit den Bands am Straßenrand ablenken. Ihnen Dank und Applaus zu spenden, gab auch mir noch einmal einen kleinen Auftrieb. Getränkestände dagegen hatten schon länger einen zweischneidigen Charakter. Natürlich brauchte man das Wasser, wegen des Wetters zur Abkühlung und zum Ausgleich des Flüssigkeitsverlusts, doch direkt nach dem Trinken lag die Flüssigkeit zunächst schwer im Magen.
Ab km 38 half dann nichts mehr. Die Verlockung stehen zu bleiben, eine kurze Strecke nur zu gehen, wurde immer größer, und ich nahm von der Umgebung eigentlich nichts mehr war. Von dem Anlauf zum Potsdamer Platz habe ich nur noch einen kurzen Blick auf das Sony-Center im Gedächtnis. Daß ich an der neuen Nationalgalerie und an der Philarmonie vorbeilief, war mir sicher irgendwie klar. Hätte man mich hier nach dem Weg dahin gefragt, hätte ich wohl noch in eine Richtung zeigen können, gleichwohl habe ich diese Gebäude, wie all die anderen besonderen Gebäude von Mitte, an denen ich jetzt vorbeilaufen sollte nicht wahrgenommen. Es war kein Tunnelblick, es war keine Trance, in der ich mich balancierte, es war einfach nur ein permanentes Fallen in den nächsten Schritt, das mich weiter voran trieb. Gefühlt stand ich. Hätte man mich gefragt, hätte ich vermutet eine 5:30min zu laufen. Tatsächlich war es nur unwesentlich langsamer als zuvor. Zwischen km 35 und 40 benötigte ich 23:03min also 45 Sekunden mehr als auf den 5 km zuvor. Dies war der drittlangsamste 5km-Abschnitt des Laufs. Damit hatte ich alle 5km-Abschnitte zwischen 22:18min und 23:22min durchgezogen. Km 40 gab mir noch mal einen leichten Push. Wie bei jeder Marke seit km 36 versuchte ich mich an meine Heimstrecke zu erinnern und wie lächerlich das war, was jetzt noch kommt, und daß ich ja schon längst auf dem Rückweg der Standard 16km-Strecke war. Dazu begleiteten mich wie meistens Musikstücke, obwohl ich keinen I-Pod dabei hatte. Besonders angetan hatte es den musikalischen Regionen meines Gehirns gerade auch in dieser kritischen Phase Udo Lindenbergs schöner Song „denn ich mach mein Ding“ (ich tu, als ob ich sing).
Wie gesagt an Gebäude kann ich mich nicht erinnern, nur an eine kurze Kopfsteinpflasterpassage in der Oberwallstraße.
Das Erreichen von Unter den Linden war so etwas wie ein vorgezogenes Finish. Ja, jeder Meter auf dieser sich furchtbar lang hinziehenden Straße tat noch weh, aber irgendwie hatte sich doch die Gewißheit durchgesetzt, daß ich das jetzt durchziehe und mich von nichts mehr abbringen lasse. Der Anblick des Brandenburger Tors wird für mich immer etwas Magisches besitzen, und so entsinne ich mich doch an ein Bauwerk auf diesen letzen Metern, dessen Durchquerung ich fast so sehr ersehnte wie Millionen anderer Deutsche 20 Jahre zuvor.
Es ist noch immer so, daß mich beim Durchlaufen des Brandenburger Tors nicht der Stolz über die eigene Leistung bewegt, sondern die Freude hier überhaupt durchlaufen zu können. Es gibt einfach kein würdigeres Ziel für den Berlin-Marathon. Das Brandenburger Tor setzt einfach Emotionen frei.
Aus einem für mich unerfindlichen Grund freute es mich besonders diesmal das Tor in der Mitte quasi durch die Hauptöffnung zu durchqueren. Hinter dem Brandenburger Tor warteten noch ein paar letzte Meter und eine grandiose Stimmung der begeistert anfeuernden Zuschauer auf uns Läufer.
Direkt unter dem 42km-Schild sah ich dann einen tragisch Gescheiterten, der von Sanitätern auf eine Trage bewegt werden sollte. Aus seinem Gesicht sprach noch der Wille die letzten 195 Meter zu schaffen, doch sein Körper sprach eine andere Sprache. Der wollte partout nicht mehr. Ich möchte nicht wissen, wie viel andere, insbesondere bei den langsameren Läufern, den hohen Temperaturen Tribut zollen mußten, doch so kurz vor dem Ziel ist es natürlich besonders bitter. Ich habe ja zwei Vereinskameraden, die für Krämpfe, Zerrungen, etc. auf den letzen Metern berühmt berüchtigt sind, gerade auch dann wenn Sub3 eigentlich schon im Trockenen war, doch ein so bitteres Scheitern ist ihnen zumindest erspart geblieben. Sie konnten sich immer noch ins Ziel schleppen.

Nach einem so traurigen Ende, kann ich dennoch ein positives Fazit ziehen. Mein Fuß hat gehalten! Ich habe keine Schmerzen in den Bändern verspürt. Nach dieser Maximalbelastung kann ich das Thema Bänderanriß damit wohl ad acta legen. Außerdem kann ich den Lauf durchaus als erfolgreiche Generalprobe für zukünftige Angriffe auf bessere Zeiten ansehen. Denn ich habe mein Ding durchgezogen und bin durchgelaufen, trotz der großen Verlockung gerade bei einem Lauf, bei dem es um nichts ging, der Bequemlichkeit nachzugeben. Die Zeit ist selbstverständlich nebensächlich. Sie dürfte aber das Maximum des an diesem Tag Möglichen sein. Ein besonderes Lob möchte ich meinen Beinen spenden, die vom 1. Km an intuitiv ahnten, was mein Körper tatsächlich drauf hatte, obwohl mein Kopf ihm eine solche Zeit verbieten wollte. Ein bißchen Anarchie im eigenen Körper paßt auch gut zu Berlin. Ich freue mich auf jeden Fall auf nächstes Jahr. Der Berlin-Marathon bleibt einfach das Maß der Dinge.

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