Berlin-Marathon Teil 1

Was kann man noch Neues über den Berlin-Marathon schreiben, wenn man ihn das neunte Mal läuft? Glücklicherweise habe ich bisher noch nicht über ihn geschrieben, so daß ich tun kann, als wäre es das erste Mal.
Die Aufregung des ersten Mals wie vor 8 Jahren war natürlich verflogen, aber die Frage der freundlichen Helferin bei der Startnummernausgabe: „Sie kennen sich ja aus?“ hat mich dann doch etwas verblüfft. Ich habe aber nicht gefragt, woran sie erkannt hat, daß ich Wiederholungstäter war.
Daß die Laufzeit, für die mich im Dezember angemeldet hatte, eine Utopie darstellte, war mir natürlich bewußt, aber ich hielt mich für mündig genug, mich selbständig in einen hinteren Startblock einzuordnen.
Neu war, daß die Startnummernausgabe diesmal im stillgelegten Flughafen Tempelhof stattfand und dort ebenso reibungslos ablief wie in den Jahren davor im E-Werk und bei der Messe. Offensichtlich wollen die Organisatoren, daß man Berlin auch abseits der Marathonstrecke kennenlernt. Schade nur, daß es der Stadt nicht gelingt, dauerhaft eine vernünftige Nutzung für das alte Flughafengelände zu finden. Hier wäre doch einmal der Raum für großflächige Utopien im Herzen der Stadt. Doch wahrscheinlich haben die Politiker unserer heutigen Zeit zu viel Angst und zu wenig Geld für waghalsige Projekte.
Wegen des eingestellten S-Bahn-Betriebs zwischen Zoo und Lehrter Bahnhof nahm ich diesmal die U-Bahn zum Potsdamer Platz, was einen etwas längeren Fußmarsch zum Startgelände erforderte. Die bereits hier strahlende Sonne veranlaßte mich dazu, viel Wasser vor dem Start zu trinken, an das ich diesmal glücklicherweise gedacht hatte. Auf ein Einlaufen verzichtete ich dagegen. Schließlich galt es für mich, nicht eine magische Zeit zu erlaufen, sondern einfach nur heil durchzukommen. Ich wollte also mehr oder minder mein Trainingstempo durchlaufen und hatte mir eine Zielzeit von 3:30 gesetzt, ohne daß deren Einhaltung für mich eine Bedeutung gehabt hätte, aber doch zumindest eine Orientierungshilfe bieten sollte, damit ich nicht übermäßig schnell laufe.
Was ich, wie in jedem Jahr, bemängeln kann, ist der von der Organisation künstlich herbeigeführte Stau beim Verlassen des Startgeländes zum Zugang zu den Startblöcken. Die Verengung des Weges durch eine mäßig breite Öffnung der Absperrung sorgt jedes Jahr für Stau und Ungemach. Hier könnte man sich durchaus mal, anhand Verhaltensstudien zur Öffnungsdurchquerung von Menschen mit kompetativem statt unterstützendem Verhalten orientieren oder noch schlichter, einfach die Öffnung breiter machen, anstatt in panischer Angst zu leben, daß Unbefugte auf das Startgelände gelangen könnten.
Statt gemäß Startnummer nach Startblock B entschied ich mich in die Mitte des Blocks D zu gehen. Das schien meiner Zielzeit angemessener. Wie meistens versuchte ich mich so kurz vor dem Start zu entspannen. Ich machte die Augen zu, und ging so drängenden Fragen nach wie: „Habe ich auch das Bügeleisen ausgemacht?“ Nein, im Ernst, es gelang mir dieser kuriose Mischmasch zwischen die Umwelt vergessen, und sich auf ein harmloses Detail der Umwelt konzentrieren gelang mir recht gut. Als Musik spielten die Veranstalter Ravels Bolero und dazu sagten ausländische Sprecher so schöne Sätze wie „Hartelijk welkomen bij de Real-Berlin-Marathon“. Dies war das Detail an dem ich mich festhielt. Ich fand den Moment deshalb so schön, weil er etwas vereinigendes mit den Menschen der unterschiedlichsten Stationen hatte, die hier am Start waren und Spaß am Laufen haben wollten. Die Veranstaltern, die den Lauf ja unter dem Motto 20 Jahre Wiedervereinigung stellen wollten, mögen von diesem Gedanken auf die Idee gebracht worden sein. Ich meine aber mich zu entsinnen, daß diese Begrüßungszeremonie auch in den Jahren zuvor stattfand, nur dann eben von mir erfolgreich ausgeblendet wurde. Diemal riß mich ein Franzose aus der Konzentrations- und Ablenkungsphase, der mir auf den Rücken klopfte und mir bedeutete, daß sich das Feld aufgrund einiger niedergerissener Absperrbänder ein paar Meter nach vorne bewegte.
Bevor ich nun zu dem Lauf komme, der aus mir unbegreiflichen Gründen von einem Sportartfremden, nämlich dem Fußball-Bundestrainer Joachim Löw, gestartet wurde, möchte ich noch ein kleines Detail vorweg schicken, daß mir in gewissen Punkten es unmöglich macht, den Lauf so zu schildern, wie ich ihn tatsächlich live wahrgenommen habe.
Seit Monaten will ich mir eigentlich eine neue Sportuhr kaufen, weil die Anzeige meiner Uhr, während des Trainings häufig nicht ablesbar ist. Wie gut das Display zu entziffern ist, ist sehr unterschiedlich. Wenn die Uhr etwas Organisches an sich hätte, würde ich sagen, es liegt an der Tagesform, wahrscheinlicher eher an den Wetterumständen, welche die Stromversorgung mehr oder weniger begünstigen. An diesem Tag konnte ich die Anzeige sehr schlecht entziffern, um nicht zu sagen – gar nicht. Zwischenzeitlich war es kurzfristig minimal besser, aber dann beschlug das Display, und es ging wirklich gar nicht. So viel also zur Orientierung an der 3:30, die ja bekanntlich die angenehmste Laufzeit ist, da man einfach stur einen 5er-Schnitt durchlaufen muß.
So lief ich also mehr oder minder blind los, was die Zeit anbelangt und mit mehr oder minder offenen Blick für die Sehenswürdigkeiten Berlins. Bereits direkt nach dem Start auf der Straße des 17. Juni wurde ziemlich klar, daß es schwer werden würde, viel zu sehen. Sicher gab es hier außer den Bäumen des Tiergartens nicht viel zu sehen, und die frontal vor einem stehende Goldelse war dann doch schwer zu übersehen, doch mehr als auf die Siegessäule mußte ich auf darauf achten, den Läufern in meinem Umfeld auszuweichen, die von vorne auf mich zukamen. Soviel also zu der Mündigkeit anderer Läufer sich richtig einzuordnen. Ich kam mir auf jeden Fall wie in einem billigen Computerspiel der 80er vor, in dem man mit seinem Raumschiff durch irgendwelche Tore fliegen mußte. Wie damals kamen mir auch hier die Tore viel zu eng vor und die Geschwindigkeit, mit der sie auf mich zukamen, viel zu hoch. Wenigstens hatte ich neben Pfeiltaste Links und Pfeiltaste Rechts (Hatte mein Orthopäde mir nicht von seitlichen Bewegungen abgeraten?) einen weiteren Steuerparameter, nämlich die eigene Geschwindigkeit. Ich benötigte für den ersten Kilometer, wie ich am späten Abend, als ich die Aufzeichnung meiner während des Laufs nicht lesbaren Uhr kontrollierte fast perfekte 4:55min. Weiter auf der Straße des 17. Juni ging es nun in Richtung Ernst-Reuter-Platz vorbei an einem Flohmarkt, der hier am künstlichen Charlottenburger Tor eigentlich immer stattfindet, wenn ich mich in dieser Gegend befinde, aber natürlich nicht mal ansatzweise mit dem Marché aux Puces in Paris vergleichbar ist. Am Ernst-Reuter-Platz verengerte sich die Laufstrecke auf drei Fahrstreifen. Hatte sich die Dichte des Läuferfelds gerade etwas entspannt nahm sie hier unvermeidbarerweise wieder zu. Dies muß man den Streckenplanern in Berlin wirklich hoch anrechnen: Die Strecke geht fast ausschließlich durch große Straßen und auch wenn das Feld manchmal arg dicht ist, es läßt sich immer noch laufen, und es gibt keine abrupten Wechsel der Richtung. Auch am Ernst-Reuter-Platz, wo wir von West nach Nord-Nord-Ost in die March- und Franklinstraße abbogen, war die Kurve sehr sanft. Bei km 3 bot sich mir ein schönes Bild. Die Marchstraße fällt zunächst langsam ab, um dann zur Brücke über den Landwehrkanal wieder anzusteigen. Dadurch konnte ich das Feld auf einer Länge von mehreren Hundert Metern vor mir laufen sehen. Diese Läufermassen vor mir zu erblicken, war ein herrliches Motiv.
Kurz vor km 4 überquerten wir, von mir unbemerkt, zum ersten Mal die Spree und bogen ab nach Osten nach Moabit. Bei km 5 hatte ich Gelegenheit auf eine von den Veranstaltern aufgestellte Laufzeituhr. Sie zeigte 0:24:54 an, also eigentlich perfekt. Ich rechnete jedoch aus, daß wenn ich eine Minute gebraucht hatte, um über die Startlinie zu kommen, ich tatsächlich 24:00 gelaufen wäre und somit eher auf eine 3:23 als auf eine 3:30 zulief, doch die Zeit war ja nebensächlich, und ich stempelte diese Überlegung als „Interessant. Im Auge behalten ab.“ Tatsächlich benötigte ich 1:32 Minuten, um über die Startlinie zu kommen.
Vorbei an der durch seine berühmten Insassen aus der SED-Führungsriege bekannten Knast Moabit ging es also weiter. Bei km 6 hatte ich einen kurzen Moment Glück und konnte auf meiner Uhr eine 4:33 erraten, was mir dann doch viel zu schnell war, zumal mir mein Gefühl richtigerweise sagte, daß die Kilometer zuvor auch nicht wesentlich langsamer waren. Ich beschloß eine strategische Pinkelpause hinter der Staatsanwaltschaft an den Brückenpfeilern der nicht fahrenden S-Bahn zu machen, um dadurch den Rhythmus zu verlieren und Tempo raus nehmen zu können.
Bei km 7 waren wir, diesmal beiläufig von mir registriert, erneut über die Spree und an der Rückseite des Kanzlerinnenamtes vorbei gelaufen (endlich paßt die neue Rechtschreibung einmal). Wir befanden uns auf Höhe der herrlich altmodischen Schweizer Botschaft. Die Schweizer Botschaft nimmt eine merkwürdige Position in dem Platz zwischen Reichstag und Kanzleramt ein. Sie paßt weder zu der modernen Architektur des Kanzleramts noch zu dem bombastischen und durch die Kuppel himmlisch erhöhten Monumentalbau Reichstag noch zu der Größe der freien Fläche des Platzes, und doch möchte ich dieses Gebäude in seiner Schlichtheit gerade an diesem Platz nicht missen. Es holt den Beobachter einfach zurück auf den Teppich und erinnert eher an ein Fort, indem das Schweizer Bankgeheimnis bis zur letzten Pistolenkugel gegen die Kavallerie verteidigt wird. An diesem herrlich einfachen Haus sollte ich also meinen bis dato langsamsten km mit 5:10 laufen. Auf meiner Uhr erkannte ich nur die 5, was mir angesichts der freiwilligen Pause immer noch schnell, zumal ich bei der erneuten Überquerung der Spree, die hier ja ihren berühmten Bogen schlägt, Läufer, die mein Tempo liefen, etwas von 4:40 reden hörte, was keine wesentliche Temporeduzierung meinerseits indizierte.
Die Reinhardtstraße hinunter bot sich erneut das Bild der vor einem laufenden Massen. Am Ende der Straße liegt der Friedrichstadtpalast. Jedes Jahr wieder träume ich beim Anlauf auf das Theater davon, daß die Revuegirls an der Straße stehen und Cancan tanzen. Jedes Jahr wieder halte ich meinen Blick auf das Theater gerichtet, was mich häufig die hiesige Kurve nach Norden und das dort befindliche km 8 Schild übersehen läßt, und jedes Jahr werde ich enttäuscht. Wenn schon nicht die Revuegirls so möchte ich an dieser Stelle doch die unzähligen Bands, Trommlertruppen, Tänzerinnen und die begeistert Anfeuerung spendenden Zuschauer loben. Sie machen den Berlin-Marathon Jahr für Jahr zu einem großartigen Ereignis.
Der Abzweig in die Friedrichstraße ist eigentlich eine Art Schikane im technischen Sinn, biegt man doch kurz darauf wieder nach Osten ab. Hierbei kommt die Schikane im metaphorischen Sinne, biegt man doch in die Torstraße und nicht in die Oranienburger Straße. Beim Schönhauser Tor erreichten wir km 10. Die offizielle Uhr zeigte 48:12, was mir verdeutlichte, daß ich irgend etwas mit einer 23 vorne dran auf den letzten 5km gelaufen war. 23:18 um präzise zu sein. Auf jeden Fall recht schnell, insbesondere, wenn man meine Pause bedenkt.
Nachdem die Torstraße in die Mollstraße übergegangen war, bogen wir nach Süden in die Otto-Braun-Straße ab, wo wir uns quasi am Fuße des Alex befanden, als wir erneut Richtung Osten in die Karl-Marx-Alle abbogen. Am Kreisverkehr des Strausberger Platz machten wir eine 270°-Drehung und änderten die Richtung gen Süden in die Lichtenberger Straße. Hier wurde mir wieder einmal deutlich, wie sehr Metropolen wie Paris und auch Berlin das Prinzip der Sichtachse berücksichtigen. Schon aus über einem km Entfernung erblickt man die Michaeliskirche, einen durchaus mächtigen Bau. Durch die lange Anfahrt, bzw. Anlaufen, bei dem einem das Bauwerk immer größer erscheint, gewinnt es langsam an Mächtigkeit im Unterbewußtsein des Betrachters. Interessanterweise findet man diese Sichtachsen selten in gewachsenen Städten, die meist deutlich verwinkelter sind, aber viel mehr in Prestigestädten, in denen Herrscher ihre Macht demonstrieren wollten.
Schon ein kleines Stück vor der Michaeliskirche nahmen wir eine kurze Rechts-Links-Schikane durch die Köpenicker Straße in die Heinrich Heine Straße.

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