Berlin-Marathon Teil 2 und Schluß

Hier machten die Zuschauer den Veranstalter einen Strich durch die Rechnung und verengten die Fahrbahn. Dies bot Tour de France Stimmung in zweierlei Hinsicht. Erstens bot der enge Kontakt mit frenetisch feiernden Zuschauern einfach eine Gänsehautatmosphäre. Zweitens wurde das Läuferfeld so verdichtet, daß man aufpassen mußte, dem Vordermann oder der Vorderfrau nicht in die Hacken zu laufen.
Eigentlich bereits seit km 2 war das Wetter der Gegner der Läufer. Ich kann mich nicht entsinnen bei einem Marathon schon so früh mit dem Schwitzen begonnen zu haben. Die offiziellen Temperaturen waren wahrscheinlich gar nicht so hoch, aber die Sonne knallte ziemlich gnadenlos auf uns herunter und man konnte ihr natürlich nicht 42 km lang ausweichen. Viel Trinken war also angesagt. Sonst nehme ich auf den ersten 20km gerne nur 2 Versorgungsstellen wahr. Hier nutzte ich zumindest alle 5 km einen Versorgungsstand. Berlin zeichnet sich dadurch aus, daß ab km 10 alle 2-3 km ein Versorgungsstand am Streckenrand steht.
Die nächste Abzweigung führte uns in Richtung km 15 und zum Kottbusser Tor. Ich bin ja überzeugt, daß wenn Alfred Döblin heute Berlin Alexanderplatz schreiben würde es Berlin Kottbusser Tor heißen würde. Die Trostlosigkeit dieser Gegend im Herzen des pulsierenden Kreuzbergs hat etwas sehr Trauriges und zugleich schaurig Faszinierendes. Zwei der Dreimal, die ich jemand am hellichten Tag gesehen habe, der sich auf offener Straße einen Schuß setzt, was für mich mit das abstoßenste und zugleich verzweifelste Bild menschlichen Daseins aufzeigt, kamen in dieser Gegend vor. Und doch hier in Kreuzberg kriegt man die besten Döner Deutschlands.
Bei km 15 stand eine 1:10:46 als Bruttozeit auf der offiziellen Uhr. Meine Rechenkünste hatten offensichtlich schon einen leichten Sonnenstich abbekommen, denn ich ging davon aus, auf eine 3:20 zuzulaufen. Als ich nun auf dem Kottbusser Damm den im Schottenkostüm verkleideten Zug- und Bremsläufer für 3:15 passierte, wollte ich ihm schon zurufen, daß das mit 3:15 nichts wird, aber ich konnte meine Häme dann doch zurückhalten, wahrscheinlich weil die mathematische Region meines Gehirns doch einen sachten und nur unterbewußt vernehmbaren „das stimmt nicht“-Impuls sendete.
Am Hermannsplatz konnte ich endlich erkennen, wofür eigentlich die MLPD steht, die entlang der Strecke viele Plakate plaziert hatte. Es ist nicht, wie von mir spekuliert, die Nachfolgepartei der APPD, der anarchistischen Pogo Partei Deutschland, sondern die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands, die damit wirbt Kapitalismuskritik im Original zu liefern. Es mußte ja einen Grund geben, wieso die Partei bei mir im Wahl-O-Mat durchgefallen war. Am Hermannsplatz bogen wir ab auf einen klaren Westkurs in die Hasenheide, der sich über fast drei km in die Gneisenaustraße fortsetzte. Hier überkam mich wieder etwas wie die reine Freude am Laufen. Es war einer dieser Momente, in denen man mit sich selbst und dem Lauf an sich zufrieden ist und ihn einfach nur genießt. So ging es durch die Yorckstraße in brutto 1:33:12 an km 20 vorbei. Damit war ich, was mir zu dem Zeitpunkt nicht bewußt war, die zweiten 10km in exakt 45:00min gelaufen und damit viel zu schnell, was mir schon allein deshalb eher präsent war, da meine Muskeln doch sich das erste Mal, wenn auch noch auf harmlose Art und Weise bemerkbar machten.
Jeder Läufer hat ja eine unterschiedliche Antwort darauf welcher Punkt in einem Marathon besonders kritisch ist. Meistens kann man sich auf die Strecke nach km 30 oder 35 als Größtem Gemeinsamen Nenner einigen, und sicher ist jeder Lauf anders. Ich stelle immer wieder, gerade in Berlin, fest, wie wichtig die km 20-25 sind. Der Läufer ist in einen gewissen Trott geraten, kommt mit seinem Tempo noch relativ gut klar und gerät in Gefahre es sich gemütlich zu machen, was angesichts der tollen Stimmung an Potsdamer- und Grunewaldstraße eigentlich verwunderlich ist. Aber gerade hier gerät der Läufer in Versuchung das Tempo zu verschleppen, so daß dies in der Vergangenheit für mich ein Punkt war, an dem ich mich aus Gruppen gelöst habe und versuchte das Tempo zu forcieren und gleichzeitig Probleme hatte, es überhaupt zu halten. Die Strecke führt in diesem Abschnitt durch die Martin-Luther-Straße am Rathaus Schöneberg vorbei streng nach Süden in die Hauptstraße, ein Straßenname, der mich in einer Stadt wie Berlin jedesmal schmunzeln läßt. Leider drosselte ich mein Tempo nur unmerklich und passierte die 25km-Marke in brutto 1:55:54, was 22:42 für die letzten 5km bedeutete.
Kurz darauf wieder auf Westkurs Schöneberg verlassend und nach Dahlem einlaufend, traf ich auf Till Teuber aus Hamburg, der für die Lebensfitness e.V. lief und wir liefen für 1,5 km zusammen. Er erzählte mir, daß es bei ihm jetzt schon der 19. Berlin-Marathon war, er ebenso untrainiert war wie ich, sich ähnlich wie ich deshalb an den 3:30 orientierte und ebenso eigentlich zu schnell lief, aber es gleichfalls nicht tragisch fand. Er hatte mitbekommen, daß Haile wohl 30 Sekunden unter Weltrekordkurs lag, und wir konnten spekulieren, ob er jetzt schon im Ziel war. Wieder alleine lief ich durch die Lentzeallee. Früher, als das Ziel noch in der Tauentzienstraße lag, war dieser Streckenabschnitt den Läufern geradezu verhaßt. Damals kam man hier auf die magischen 35km zu durch die ganz leicht aber doch bemerkbar ansteigende Lentzeallee, die sich endlos lang bis zum Wilden Eber hinzieht. Die Zuschauer wußten das, und so wie der Anstieg verhaßt, war der Wilde Eber bei den Läufern beliebt, hatte man hier doch das Ende des Anstiegs erreicht, und traf auf eine Masse an Zuschauern die eine bombastische Stimmung verbreiteten. Heute passiert man km 28 und der an und für sich harmlose Anstieg ist immer noch eine Qual. Geblieben sind auch, und das ist den Einwohnern Dahlems hoch anzurechnen, die Zuschauermassen. Am wilden Eber ist eine Bühne für eine ausdauernde Tanzgruppe aufgebaut, die hier zu heißen Sambaklängen eine Wahnsinnsstimmung macht. Durch die Rheinbabenallee ging es jetzt Richtung Nordwest und am Hohenzollerndamm hatten wir den westlichsten Punkt der Strecke erreicht. Jetzt ging es den langen Hohenzollerndamm entlang bis zum Fehrbelliner Platz bei km 32. Km 30 erreichte ich nach brutto 2:18:21, womit ich zwischen km 25 und 30 exakt eine Sekunde langsamer lief als zwischen km 15 und 20. Die km-Zeiten pendelten sich auf 2 Sekunden genau um 4:30 min ein, trotz des Anstiegs der Lentzeallee.
Die Strecke am Hohenzollerndamm ist mit die langweiligste des gesamten Marathons. Vorbei an westdeutschen Plattenbauten, Bürogebäuden und so gut wie keinem Publikum läuft man nach Nordost bis es am Fehrbelliner Platz durch die Brandenburgische Straße in die Konstanzer Straße geht. Mir wurde klar, daß ich meinen Psychotrick von langen Trainingsläufen noch gar nicht angewandt hatte. Dort rede ich bei km-Marken vor mich hin „Nur noch 10 km“, auch wenn es noch weit mehr als 10 km sind, und auch wenn es schon längst keine 10 km mehr sind. Jetzt waren es weniger als 10 km, so daß ich auf diesen Trick nicht mehr bauen konnte. Das Erreichen des 33-km-Schilds versetzte mich dennoch irgendwie in Hochstimmung, war ich doch immer noch gut auf den Beinen. Das mich hier in der Konstanzer Straße vor der freundlichen Cornelia Apotheke meine Familie und deren Bekannte feierten verstärkte dieses Hochgefühl noch. Da ich mich recht gut fühlte, und die Zeit ja auch wirklich keine Rolle spielte, erlaubte ich mir hier auch einige Späßchen mit meinen Lieblingszuschauern. Ich konnte meiner Tante ansehen, daß sie das neunte Jahr in Folge die Aufputschmittel vergessen hatte. Da ich mich ohnehin noch gut fühlte, entschied ich mich dazu, einfach weiter zu laufen und sie nicht nach irgendwelchen Mittelchen kramen zu lassen. O.K., eigentlich sollte ich über dieses Thema keine Witze machen, aber seit wann besitze ich guten Geschmack?
Ziemlich genau ab hier nahm die Kulisse wieder zu. Als ich kurz darauf auf den Kudamm einbog, war es wieder phantastisch, wie viele Menschen hier an der Kurve und entlang beider Seiten des Kudamms standen. Das war Athmossphäre pur. Km 34 und 35 wurden mit 4:22min und 4:23min dann auch die schnellsten km meines Laufs.
Das was jetzt kommt möchte ich unter ein Zitat aus dem Film „Spiel auf Zeit“ mit Nicholas Cage stellen. Die Schlüsselszene, in der Box-Champion auf Kommando zu Boden geht, um von einem gleichzeitig stattfindenden  Attentat abzulenken, wird durch das Kommando „Jetzt kommt der Schmerz“ eingeleitet.
Jeder Läufer kennt die Geschichten vom Mann mit dem Hammer, entgegnet routiniert, daß das ja stimme, aber das Training von langen Läufen ja das A und O sei und blablabla. Ich hatte in meiner knapp bemessenen Vorbereitung nur einen Lauf über 35km. Und jetzt kam, pünktlich wie die Maurer, der Mann mit dem Hammer. Er drosch auf mich ein und schrie mir mit einer widerwärtig lachenden Visage ins Gesicht: „Jetzt kommt der Schmerz.“ Die noch ausstehende Strecke könnte ich also mit einer permanenten Wiederholung des Worts Auuu beschreiben, doch dies würde nicht ganz stimmen, denn es waren nicht die Muskeln die schmerzten, sondern die allgemeine Erschöpfung. Wenn also einer der Leser einen passenden Ausdruck für Röcheln kennt, können wir an dieser Stelle den Bericht damit gerne an dieser Stelle zu Ende führen.
Hier am alten Ziel beim Wittenbergplatz traf ich auf einen Läufer mit Shirt-Aufdruck „Projekt 2:99 – Hauptsache unter 3“. Ich munterte ihn auf, und beruhigte ihn, daß er sein Projektziel locker erreichen wird. Bis km 38 konnte ich mich noch ein wenig mit den Bands am Straßenrand ablenken. Ihnen Dank und Applaus zu spenden, gab auch mir noch einmal einen kleinen Auftrieb. Getränkestände dagegen hatten schon länger einen zweischneidigen Charakter. Natürlich brauchte man das Wasser, wegen des Wetters zur Abkühlung und zum Ausgleich des Flüssigkeitsverlusts, doch direkt nach dem Trinken lag die Flüssigkeit zunächst schwer im Magen.
Ab km 38 half dann nichts mehr. Die Verlockung stehen zu bleiben, eine kurze Strecke nur zu gehen, wurde immer größer, und ich nahm von der Umgebung eigentlich nichts mehr war. Von dem Anlauf zum Potsdamer Platz habe ich nur noch einen kurzen Blick auf das Sony-Center im Gedächtnis. Daß ich an der neuen Nationalgalerie und an der Philarmonie vorbeilief, war mir sicher irgendwie klar. Hätte man mich hier nach dem Weg dahin gefragt, hätte ich wohl noch in eine Richtung zeigen können, gleichwohl habe ich diese Gebäude, wie all die anderen besonderen Gebäude von Mitte, an denen ich jetzt vorbeilaufen sollte nicht wahrgenommen. Es war kein Tunnelblick, es war keine Trance, in der ich mich balancierte, es war einfach nur ein permanentes Fallen in den nächsten Schritt, das mich weiter voran trieb. Gefühlt stand ich. Hätte man mich gefragt, hätte ich vermutet eine 5:30min zu laufen. Tatsächlich war es nur unwesentlich langsamer als zuvor. Zwischen km 35 und 40 benötigte ich 23:03min also 45 Sekunden mehr als auf den 5 km zuvor. Dies war der drittlangsamste 5km-Abschnitt des Laufs. Damit hatte ich alle 5km-Abschnitte zwischen 22:18min und 23:22min durchgezogen. Km 40 gab mir noch mal einen leichten Push. Wie bei jeder Marke seit km 36 versuchte ich mich an meine Heimstrecke zu erinnern und wie lächerlich das war, was jetzt noch kommt, und daß ich ja schon längst auf dem Rückweg der Standard 16km-Strecke war. Dazu begleiteten mich wie meistens Musikstücke, obwohl ich keinen I-Pod dabei hatte. Besonders angetan hatte es den musikalischen Regionen meines Gehirns gerade auch in dieser kritischen Phase Udo Lindenbergs schöner Song „denn ich mach mein Ding“ (ich tu, als ob ich sing).
Wie gesagt an Gebäude kann ich mich nicht erinnern, nur an eine kurze Kopfsteinpflasterpassage in der Oberwallstraße.
Das Erreichen von Unter den Linden war so etwas wie ein vorgezogenes Finish. Ja, jeder Meter auf dieser sich furchtbar lang hinziehenden Straße tat noch weh, aber irgendwie hatte sich doch die Gewißheit durchgesetzt, daß ich das jetzt durchziehe und mich von nichts mehr abbringen lasse. Der Anblick des Brandenburger Tors wird für mich immer etwas Magisches besitzen, und so entsinne ich mich doch an ein Bauwerk auf diesen letzen Metern, dessen Durchquerung ich fast so sehr ersehnte wie Millionen anderer Deutsche 20 Jahre zuvor.
Es ist noch immer so, daß mich beim Durchlaufen des Brandenburger Tors nicht der Stolz über die eigene Leistung bewegt, sondern die Freude hier überhaupt durchlaufen zu können. Es gibt einfach kein würdigeres Ziel für den Berlin-Marathon. Das Brandenburger Tor setzt einfach Emotionen frei.
Aus einem für mich unerfindlichen Grund freute es mich besonders diesmal das Tor in der Mitte quasi durch die Hauptöffnung zu durchqueren. Hinter dem Brandenburger Tor warteten noch ein paar letzte Meter und eine grandiose Stimmung der begeistert anfeuernden Zuschauer auf uns Läufer.
Direkt unter dem 42km-Schild sah ich dann einen tragisch Gescheiterten, der von Sanitätern auf eine Trage bewegt werden sollte. Aus seinem Gesicht sprach noch der Wille die letzten 195 Meter zu schaffen, doch sein Körper sprach eine andere Sprache. Der wollte partout nicht mehr. Ich möchte nicht wissen, wie viel andere, insbesondere bei den langsameren Läufern, den hohen Temperaturen Tribut zollen mußten, doch so kurz vor dem Ziel ist es natürlich besonders bitter. Ich habe ja zwei Vereinskameraden, die für Krämpfe, Zerrungen, etc. auf den letzen Metern berühmt berüchtigt sind, gerade auch dann wenn Sub3 eigentlich schon im Trockenen war, doch ein so bitteres Scheitern ist ihnen zumindest erspart geblieben. Sie konnten sich immer noch ins Ziel schleppen.

Nach einem so traurigen Ende, kann ich dennoch ein positives Fazit ziehen. Mein Fuß hat gehalten! Ich habe keine Schmerzen in den Bändern verspürt. Nach dieser Maximalbelastung kann ich das Thema Bänderanriß damit wohl ad acta legen. Außerdem kann ich den Lauf durchaus als erfolgreiche Generalprobe für zukünftige Angriffe auf bessere Zeiten ansehen. Denn ich habe mein Ding durchgezogen und bin durchgelaufen, trotz der großen Verlockung gerade bei einem Lauf, bei dem es um nichts ging, der Bequemlichkeit nachzugeben. Die Zeit ist selbstverständlich nebensächlich. Sie dürfte aber das Maximum des an diesem Tag Möglichen sein. Ein besonderes Lob möchte ich meinen Beinen spenden, die vom 1. Km an intuitiv ahnten, was mein Körper tatsächlich drauf hatte, obwohl mein Kopf ihm eine solche Zeit verbieten wollte. Ein bißchen Anarchie im eigenen Körper paßt auch gut zu Berlin. Ich freue mich auf jeden Fall auf nächstes Jahr. Der Berlin-Marathon bleibt einfach das Maß der Dinge.

Berlin-Marathon Teil 1

Was kann man noch Neues über den Berlin-Marathon schreiben, wenn man ihn das neunte Mal läuft? Glücklicherweise habe ich bisher noch nicht über ihn geschrieben, so daß ich tun kann, als wäre es das erste Mal.
Die Aufregung des ersten Mals wie vor 8 Jahren war natürlich verflogen, aber die Frage der freundlichen Helferin bei der Startnummernausgabe: „Sie kennen sich ja aus?“ hat mich dann doch etwas verblüfft. Ich habe aber nicht gefragt, woran sie erkannt hat, daß ich Wiederholungstäter war.
Daß die Laufzeit, für die mich im Dezember angemeldet hatte, eine Utopie darstellte, war mir natürlich bewußt, aber ich hielt mich für mündig genug, mich selbständig in einen hinteren Startblock einzuordnen.
Neu war, daß die Startnummernausgabe diesmal im stillgelegten Flughafen Tempelhof stattfand und dort ebenso reibungslos ablief wie in den Jahren davor im E-Werk und bei der Messe. Offensichtlich wollen die Organisatoren, daß man Berlin auch abseits der Marathonstrecke kennenlernt. Schade nur, daß es der Stadt nicht gelingt, dauerhaft eine vernünftige Nutzung für das alte Flughafengelände zu finden. Hier wäre doch einmal der Raum für großflächige Utopien im Herzen der Stadt. Doch wahrscheinlich haben die Politiker unserer heutigen Zeit zu viel Angst und zu wenig Geld für waghalsige Projekte.
Wegen des eingestellten S-Bahn-Betriebs zwischen Zoo und Lehrter Bahnhof nahm ich diesmal die U-Bahn zum Potsdamer Platz, was einen etwas längeren Fußmarsch zum Startgelände erforderte. Die bereits hier strahlende Sonne veranlaßte mich dazu, viel Wasser vor dem Start zu trinken, an das ich diesmal glücklicherweise gedacht hatte. Auf ein Einlaufen verzichtete ich dagegen. Schließlich galt es für mich, nicht eine magische Zeit zu erlaufen, sondern einfach nur heil durchzukommen. Ich wollte also mehr oder minder mein Trainingstempo durchlaufen und hatte mir eine Zielzeit von 3:30 gesetzt, ohne daß deren Einhaltung für mich eine Bedeutung gehabt hätte, aber doch zumindest eine Orientierungshilfe bieten sollte, damit ich nicht übermäßig schnell laufe.
Was ich, wie in jedem Jahr, bemängeln kann, ist der von der Organisation künstlich herbeigeführte Stau beim Verlassen des Startgeländes zum Zugang zu den Startblöcken. Die Verengung des Weges durch eine mäßig breite Öffnung der Absperrung sorgt jedes Jahr für Stau und Ungemach. Hier könnte man sich durchaus mal, anhand Verhaltensstudien zur Öffnungsdurchquerung von Menschen mit kompetativem statt unterstützendem Verhalten orientieren oder noch schlichter, einfach die Öffnung breiter machen, anstatt in panischer Angst zu leben, daß Unbefugte auf das Startgelände gelangen könnten.
Statt gemäß Startnummer nach Startblock B entschied ich mich in die Mitte des Blocks D zu gehen. Das schien meiner Zielzeit angemessener. Wie meistens versuchte ich mich so kurz vor dem Start zu entspannen. Ich machte die Augen zu, und ging so drängenden Fragen nach wie: „Habe ich auch das Bügeleisen ausgemacht?“ Nein, im Ernst, es gelang mir dieser kuriose Mischmasch zwischen die Umwelt vergessen, und sich auf ein harmloses Detail der Umwelt konzentrieren gelang mir recht gut. Als Musik spielten die Veranstalter Ravels Bolero und dazu sagten ausländische Sprecher so schöne Sätze wie „Hartelijk welkomen bij de Real-Berlin-Marathon“. Dies war das Detail an dem ich mich festhielt. Ich fand den Moment deshalb so schön, weil er etwas vereinigendes mit den Menschen der unterschiedlichsten Stationen hatte, die hier am Start waren und Spaß am Laufen haben wollten. Die Veranstaltern, die den Lauf ja unter dem Motto 20 Jahre Wiedervereinigung stellen wollten, mögen von diesem Gedanken auf die Idee gebracht worden sein. Ich meine aber mich zu entsinnen, daß diese Begrüßungszeremonie auch in den Jahren zuvor stattfand, nur dann eben von mir erfolgreich ausgeblendet wurde. Diemal riß mich ein Franzose aus der Konzentrations- und Ablenkungsphase, der mir auf den Rücken klopfte und mir bedeutete, daß sich das Feld aufgrund einiger niedergerissener Absperrbänder ein paar Meter nach vorne bewegte.
Bevor ich nun zu dem Lauf komme, der aus mir unbegreiflichen Gründen von einem Sportartfremden, nämlich dem Fußball-Bundestrainer Joachim Löw, gestartet wurde, möchte ich noch ein kleines Detail vorweg schicken, daß mir in gewissen Punkten es unmöglich macht, den Lauf so zu schildern, wie ich ihn tatsächlich live wahrgenommen habe.
Seit Monaten will ich mir eigentlich eine neue Sportuhr kaufen, weil die Anzeige meiner Uhr, während des Trainings häufig nicht ablesbar ist. Wie gut das Display zu entziffern ist, ist sehr unterschiedlich. Wenn die Uhr etwas Organisches an sich hätte, würde ich sagen, es liegt an der Tagesform, wahrscheinlicher eher an den Wetterumständen, welche die Stromversorgung mehr oder weniger begünstigen. An diesem Tag konnte ich die Anzeige sehr schlecht entziffern, um nicht zu sagen – gar nicht. Zwischenzeitlich war es kurzfristig minimal besser, aber dann beschlug das Display, und es ging wirklich gar nicht. So viel also zur Orientierung an der 3:30, die ja bekanntlich die angenehmste Laufzeit ist, da man einfach stur einen 5er-Schnitt durchlaufen muß.
So lief ich also mehr oder minder blind los, was die Zeit anbelangt und mit mehr oder minder offenen Blick für die Sehenswürdigkeiten Berlins. Bereits direkt nach dem Start auf der Straße des 17. Juni wurde ziemlich klar, daß es schwer werden würde, viel zu sehen. Sicher gab es hier außer den Bäumen des Tiergartens nicht viel zu sehen, und die frontal vor einem stehende Goldelse war dann doch schwer zu übersehen, doch mehr als auf die Siegessäule mußte ich auf darauf achten, den Läufern in meinem Umfeld auszuweichen, die von vorne auf mich zukamen. Soviel also zu der Mündigkeit anderer Läufer sich richtig einzuordnen. Ich kam mir auf jeden Fall wie in einem billigen Computerspiel der 80er vor, in dem man mit seinem Raumschiff durch irgendwelche Tore fliegen mußte. Wie damals kamen mir auch hier die Tore viel zu eng vor und die Geschwindigkeit, mit der sie auf mich zukamen, viel zu hoch. Wenigstens hatte ich neben Pfeiltaste Links und Pfeiltaste Rechts (Hatte mein Orthopäde mir nicht von seitlichen Bewegungen abgeraten?) einen weiteren Steuerparameter, nämlich die eigene Geschwindigkeit. Ich benötigte für den ersten Kilometer, wie ich am späten Abend, als ich die Aufzeichnung meiner während des Laufs nicht lesbaren Uhr kontrollierte fast perfekte 4:55min. Weiter auf der Straße des 17. Juni ging es nun in Richtung Ernst-Reuter-Platz vorbei an einem Flohmarkt, der hier am künstlichen Charlottenburger Tor eigentlich immer stattfindet, wenn ich mich in dieser Gegend befinde, aber natürlich nicht mal ansatzweise mit dem Marché aux Puces in Paris vergleichbar ist. Am Ernst-Reuter-Platz verengerte sich die Laufstrecke auf drei Fahrstreifen. Hatte sich die Dichte des Läuferfelds gerade etwas entspannt nahm sie hier unvermeidbarerweise wieder zu. Dies muß man den Streckenplanern in Berlin wirklich hoch anrechnen: Die Strecke geht fast ausschließlich durch große Straßen und auch wenn das Feld manchmal arg dicht ist, es läßt sich immer noch laufen, und es gibt keine abrupten Wechsel der Richtung. Auch am Ernst-Reuter-Platz, wo wir von West nach Nord-Nord-Ost in die March- und Franklinstraße abbogen, war die Kurve sehr sanft. Bei km 3 bot sich mir ein schönes Bild. Die Marchstraße fällt zunächst langsam ab, um dann zur Brücke über den Landwehrkanal wieder anzusteigen. Dadurch konnte ich das Feld auf einer Länge von mehreren Hundert Metern vor mir laufen sehen. Diese Läufermassen vor mir zu erblicken, war ein herrliches Motiv.
Kurz vor km 4 überquerten wir, von mir unbemerkt, zum ersten Mal die Spree und bogen ab nach Osten nach Moabit. Bei km 5 hatte ich Gelegenheit auf eine von den Veranstaltern aufgestellte Laufzeituhr. Sie zeigte 0:24:54 an, also eigentlich perfekt. Ich rechnete jedoch aus, daß wenn ich eine Minute gebraucht hatte, um über die Startlinie zu kommen, ich tatsächlich 24:00 gelaufen wäre und somit eher auf eine 3:23 als auf eine 3:30 zulief, doch die Zeit war ja nebensächlich, und ich stempelte diese Überlegung als „Interessant. Im Auge behalten ab.“ Tatsächlich benötigte ich 1:32 Minuten, um über die Startlinie zu kommen.
Vorbei an der durch seine berühmten Insassen aus der SED-Führungsriege bekannten Knast Moabit ging es also weiter. Bei km 6 hatte ich einen kurzen Moment Glück und konnte auf meiner Uhr eine 4:33 erraten, was mir dann doch viel zu schnell war, zumal mir mein Gefühl richtigerweise sagte, daß die Kilometer zuvor auch nicht wesentlich langsamer waren. Ich beschloß eine strategische Pinkelpause hinter der Staatsanwaltschaft an den Brückenpfeilern der nicht fahrenden S-Bahn zu machen, um dadurch den Rhythmus zu verlieren und Tempo raus nehmen zu können.
Bei km 7 waren wir, diesmal beiläufig von mir registriert, erneut über die Spree und an der Rückseite des Kanzlerinnenamtes vorbei gelaufen (endlich paßt die neue Rechtschreibung einmal). Wir befanden uns auf Höhe der herrlich altmodischen Schweizer Botschaft. Die Schweizer Botschaft nimmt eine merkwürdige Position in dem Platz zwischen Reichstag und Kanzleramt ein. Sie paßt weder zu der modernen Architektur des Kanzleramts noch zu dem bombastischen und durch die Kuppel himmlisch erhöhten Monumentalbau Reichstag noch zu der Größe der freien Fläche des Platzes, und doch möchte ich dieses Gebäude in seiner Schlichtheit gerade an diesem Platz nicht missen. Es holt den Beobachter einfach zurück auf den Teppich und erinnert eher an ein Fort, indem das Schweizer Bankgeheimnis bis zur letzten Pistolenkugel gegen die Kavallerie verteidigt wird. An diesem herrlich einfachen Haus sollte ich also meinen bis dato langsamsten km mit 5:10 laufen. Auf meiner Uhr erkannte ich nur die 5, was mir angesichts der freiwilligen Pause immer noch schnell, zumal ich bei der erneuten Überquerung der Spree, die hier ja ihren berühmten Bogen schlägt, Läufer, die mein Tempo liefen, etwas von 4:40 reden hörte, was keine wesentliche Temporeduzierung meinerseits indizierte.
Die Reinhardtstraße hinunter bot sich erneut das Bild der vor einem laufenden Massen. Am Ende der Straße liegt der Friedrichstadtpalast. Jedes Jahr wieder träume ich beim Anlauf auf das Theater davon, daß die Revuegirls an der Straße stehen und Cancan tanzen. Jedes Jahr wieder halte ich meinen Blick auf das Theater gerichtet, was mich häufig die hiesige Kurve nach Norden und das dort befindliche km 8 Schild übersehen läßt, und jedes Jahr werde ich enttäuscht. Wenn schon nicht die Revuegirls so möchte ich an dieser Stelle doch die unzähligen Bands, Trommlertruppen, Tänzerinnen und die begeistert Anfeuerung spendenden Zuschauer loben. Sie machen den Berlin-Marathon Jahr für Jahr zu einem großartigen Ereignis.
Der Abzweig in die Friedrichstraße ist eigentlich eine Art Schikane im technischen Sinn, biegt man doch kurz darauf wieder nach Osten ab. Hierbei kommt die Schikane im metaphorischen Sinne, biegt man doch in die Torstraße und nicht in die Oranienburger Straße. Beim Schönhauser Tor erreichten wir km 10. Die offizielle Uhr zeigte 48:12, was mir verdeutlichte, daß ich irgend etwas mit einer 23 vorne dran auf den letzten 5km gelaufen war. 23:18 um präzise zu sein. Auf jeden Fall recht schnell, insbesondere, wenn man meine Pause bedenkt.
Nachdem die Torstraße in die Mollstraße übergegangen war, bogen wir nach Süden in die Otto-Braun-Straße ab, wo wir uns quasi am Fuße des Alex befanden, als wir erneut Richtung Osten in die Karl-Marx-Alle abbogen. Am Kreisverkehr des Strausberger Platz machten wir eine 270°-Drehung und änderten die Richtung gen Süden in die Lichtenberger Straße. Hier wurde mir wieder einmal deutlich, wie sehr Metropolen wie Paris und auch Berlin das Prinzip der Sichtachse berücksichtigen. Schon aus über einem km Entfernung erblickt man die Michaeliskirche, einen durchaus mächtigen Bau. Durch die lange Anfahrt, bzw. Anlaufen, bei dem einem das Bauwerk immer größer erscheint, gewinnt es langsam an Mächtigkeit im Unterbewußtsein des Betrachters. Interessanterweise findet man diese Sichtachsen selten in gewachsenen Städten, die meist deutlich verwinkelter sind, aber viel mehr in Prestigestädten, in denen Herrscher ihre Macht demonstrieren wollten.
Schon ein kleines Stück vor der Michaeliskirche nahmen wir eine kurze Rechts-Links-Schikane durch die Köpenicker Straße in die Heinrich Heine Straße.